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Dieter Ronte
WISSEN – DENKEN – HANDELN. ÜBER DIE MALEREI MICHAEL RAMSAUERS
zur Ausstellung im Stadtmuseum Oldenburg
Juni bis 21. August 2016
"Die Welt ist erschöpft – du willst sie unerschöpflich. Die Welt ist endlich, du willst sie
grenzenlos. Die Welt ist rund, und du willst, wenn du sie umrundest, nicht am Ende
und auch nicht am Ausgangspunkt ankommen."
(Gräten in: Robert Menasse, Doktor Hoechst. Ein Faustspiel, Wien 2013, p. 55)
I. WISSEN
Mit dem verbalen Dreisatz „Wissen – Denken – Handeln“ kann das Kunstwollen von
Michael Ramsauer eingeordnet werden. Seine Bilder sind keine spontanen abstrakten
Setzungen seiner Gefühlswelt aber auch keine realistischen, kritischen Setzungen
von Gesehenem. Wenn sich dem Betrachter die Emotionen in den Werken vermitteln,
dann, weil der Künstler selbstverständlich die Erfahrungen der Kunst des
zwanzigsten Jahrhunderts, also die Errungenschaften der unmittelbaren Abstraktion
und die des verfremdenden Realismus kennt und in sich aufgenommen hat.
Ramsauer kennt die Vergangenheit der Kunst sehr genau. Die Kunstgeschichte ist
für ihn eine Quelle der Inspiration seit seiner Kindheit. Sie liegt als Studium der
Kunstgeschichte und der klassischen Archäologie in Kiel sogar vor dem der bildenden
Künste in Bremen bei Jürgen Waller. Die Vergangenheit ist sein ständiger Begleiter.
Für den Maler ist die Gegenwart von Kunst immer ein Aufnehmen von Elementen
der Vergangenheit, die durch das Neue in die Zukunft weitergeführt wird. Bildtitel
wie Boreas, Boreas und Oreithyia, Diana, Herkules usw. belegen die Rückgriffe in
die griechische und römische Mythologie. Da zu wenig bekannt, sei die Geschichte
von Boreas, der Nördliche, kurz angedeutet. Der Held entführt die Nymphe Oreithyia.
Als die Nymphe am Ufer des Ilisos tanzt, hüllt er sie in eine Wolke und entschwebt
mit ihr. Eine perfekte Vorlage für den Maler der Unschärfe mit seinen Vorlieben
für die Natur.
In der Atelierwohnung in der Innenstadt von Oldenburg sieht der Besucher
nicht nur beeindruckende Bilder, fertige und unfertige, verschiedenste Materialien
an Farbe, Tüchern, Pinseln, Spachteln oder Tüten, alles oft sehr ungewöhnliche Ma-
terialien zum Auftragen der Farben. Alle Gegenstände inklusive der Finger können
als Pinselersatz missbraucht werden, beziehungsweise ihre Möglichkeiten können
positiv erweitert werden. Ramsauer pflegt eine sehr persönliche Arbeitsweise, es sei
denn, er pausiert und widmet sich auf kleinen Bildträgern der Tradition der lasierenden
Ölmalerei. Ramsauer sucht seine Herausforderungen in seiner Neugier für
handwerkliche Techniken, die einen neuen Zugang für seine Kunst versprechen.
Er experimentiert gerne, wie er auch unverhofft zu einem herausragenden Porträtisten
werden kann. Vorbilder und Anregungen zu den eigenen Kompositionen, nicht
aber für Kopien alter Meister, finden sich in der hervorragend ausgestatteten kunsthistorischen
Bibliothek, die ihren Ursprung in der Jugendzeit des Malers mit der
Zweitschrift Pan hat.
Jürgen Waller (geb. 1939) war Mitbegründer der Gruppe Aspekt. Er hat Ramsauer
arbeiten und ihn seinen eigenen Weg finden lassen, was vor zwanzig Jahren
nicht ungewöhnlich war, der Professor, der keine Epigonen ausbilden will, sondern
die Energien seiner Studenten respektiert. In dieser Zeit steigert sich das Interesse
an der italienischen Kunst. Fast klassisch, sozusagen wie Albrecht Dürer (1471-1528),
zieht es ihn nach Italien und insbesondere nach Venedig, wo er als junger Maler
seine erste Ausstellung hat und seine ersten Erfolge feiern kann.
Es ist kein Zufall, dass der erste Autor, der sich auf die Interpretation des früheren
Werkes von Ramsauer einlässt, ein berühmter Professor der klassischen italienischen
Kunstgeschichte in Venedig ist. Lionello Puppi (geb. 1931) schreibt über die
„aufwühlende Poetik“ in dem Werk des Künstlers (in: M.R., shapes and sceneries,
Venice Design, 1999): „Es war unausweichlich, dass Ramsauer mit dem Untersuchen
der historischen Horizonte der visuellen Produktion begann, denn er sah sich von
Anfang an der figürlichen Tradition zugehörig und er nahm daraus seine Impulse
und Anstöße, die seinen expressiven Notwendigkeiten am nächsten waren. Dies
führte schließlich dazu, dass seine Debutwerke ein Laboratorium des Experimentierens
wurden. Die opulente Sinnlichkeit, durch welche Rubens die Nacktheit der
Körper wirken lässt, zieht ihn im gleichen Moment an, indem er die Emphase betont
und verstärkt.“ Und Puppi stellt zuletzt pragmatisch fest, dass der Künstler sich
nicht in die Mainstreams von Abstraktion, Avantgarden, Postavantgarden und Transavantgarden
einordnen lässt. Schon der Beginn der künstlerischen Produktion ist
eigenständig und unverwechselbar.
„Die Tradition dient mir als Vergewisserung“, sagt der Künstler selbst in einem
Gespräch mit Irmtraud Rippel-Manß (in M.R., Himmelfahrt. Das Triptychon der
Kreuzkirche zu Sandkrug, Oldenburgische Landschaft, 2009). In dem großen Altarbild
sieht Michael Henneberg eine Neuinterpretation des Prager Manierismus unter
Rudolf II. (ibd. p. 24). In dem Interview, das sich wie ein Manifest liest, präzisiert der
Maler selbst ein Verhältnis zur großen Tradition der Malerei. „Es sind immer eigene
Erlebnisse, die man malt, das ist ganz klar ... Der abstrakten Kunst wurde ja unsinnigerweise
eine Art Allgemeingültigkeit zugesprochen, und jeder, der figürlich malte,
wurde belächelt. Ich selbst versuche das, was ich mache, längerfristig anzulegen.
Deshalb ist mir auch mein klassischer Ansatz wichtig. Ich probiere einfach, mich zu
öffnen und mich auch von der Tradition beeinflussen zu lassen.“ (ibd. p. 38 ).
Unter den tausenden von Aphorismen von Johann Wolfgang Goethe (1749-
1832) trifft hier zusammenfassend folgende Überlegung zu (zitiert nach A. Mäckler,
Was ist Kunst...?, Köln 1987, Nr. 333):
"Kunst ist eine Art von Erkenntnis, –
weil die andere Erkenntnis keine vollständige Welterkenntnis ist."
II. DENKEN
In der Reflektion der Traditionen bringt Ramsauer immer wieder die Erfahrungen
mit dem eigenen Körper ein. Diesen belastet er während seines Lebens bis zu den
äußersten Extremen. Der eigene Körper wird Teil seines Wissens und Denkens. Der
französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623-1662 ) vergleicht in
seinen berühmten Penseés unser Wissen mit einem Kreis. Je größer nun der Radius
wird, desto größer werden die Berührungspunkte mit dem Unbekannten. Ramsauer
arbeitet und denkt in diesem tangentialen Bereich unseres Wissens. Nur im
Zentrum seines Kreises steht nicht das Abstraktum einer Theorie, sondern sein
eigener Körper.
Er selbst beschreibt eine dieser körperlichen Selbsterfahrungen: „Es sind immer
eigene Erlebnisse, die man malt, das ist ganz klar. Ich bin zum Beispiel in eine
Art Endorphinschock geraten, als ich einmal spätabends auf spiegelglatter Fläche in
einem großen See lag und ‚toter Mann‘ spielte und den Schwebezustand, das völlige
Alleinsein auf der riesigen Wasserfläche erlebte. In dem Moment haben die körpereigenen
Drogen einen Zustand geschaffen, der mich sehr beeindruckt hat. Und das
gab mir einfach die Ideen, dieses Schweben in der Schwimmer-Serie zu malen. Im
Prinzip ist auch Drogenerfahrung eine spirituelle Erfahrung“ (in: M.R., Himmelfahrt,
40). Orhan Pamuk (geb.1952) schreibt in seinem Roman ‚Das Museum der
Unschuld‘ (2008) von den heilenden Wirkungen des Rückenschwimmens und der
beglückenden Erfahrung des „Gefühls der Unendlichkeit“ (Frankfurt, 2011, Kap. 41).
Die Badenden erinnern an die Idylle des 19. Jahrhunderts und die Entdeckung
des Wohlseins in der Natur. Oder es taucht in der Badenden von 2004 die Paraphrase
einer Venusfigur von Tizian (1478-1576) auf. Ramsauer malt Skulpturen statt Menschen,
Plastiken, die als alter Ego für die neuen Erkenntnisse argumentieren. Der
große See liegt am Wohnort des Künstlers in Bad Zwischenahn. Er inspiriert über
viele Jahre eine große Serie von Bildern mit Badenden, Frauen, Bikinifrauen, Reitern,
Baumfrauen aber auch zum Thema Wald oder Waldhund und sozialen Idyllen
in der Natur wie Abendfütterung, Abgrillen usw.
Mit diesen Erklärungen seiner Badenden beschreibt der Künstler neben den
wissenschaftlichen Büchern und den vielen, vielen immer wieder besuchten Museen,
eine zweite, sehr intime und persönliche Erkenntnisquelle als Grundlage für seine
Werke: Der eigene Körper und die Auslotung extremer Situationen. Die Wirklichkeit
des eigenen Körpers wird aber nicht einfach realistisch abgebildet, sondern neu
in der wirklichen dritten Dimension auf immer neu und dicker aufgetragener Farbe
wie ein gemaltes Halbrelief verwirklicht. In dieser Ungenauigkeit erkennt der Be-
trachter die Bewusstseinserweiterungen und die mitdenkenden Reduzierungen. Die
Figuren schweben, fliegen, schwimmen, tanzen, sind unruhig, sind eigentlich nicht
dingfest zu machen. Sie sind da und entfliehen. Ihre Farbgebung ist oft monochrom,
also schwarz auf weiß, eine hinreißende Serie über den Menschen, über Mann und
Frau, über Ruhe und Stillstand. „Wenn man sich auf Schwarz konzentriert und auf
Weiß, stellt sich die kompositorische Essenz dar. Das sind Akzente, die ich minimal
verwende, einfach übertrieben, verdeutlicht, es ist ein übertriebenes Konstrukt. Ich
stelle die Struktur und das Gerüst des Bildes dar. Das funktioniert in Schwarz-Weiß
viel deutlicher“ (Michael Ramsauer, in: M.R., Himmelfahrt, p. 39). Über Jahre greift
Ramsauer das Thema immer wieder in seinen spontan wirkenden Bildern auf, sei es
in Schwarz und Weiß oder auch in farbigen Setzungen.
„Ich will es so sagen: Ich habe ziemlich lange gebraucht, um meinen Frieden
mit der Welt zu machen. Ich rede aber nur von meinem Leben, und das spielt keine
Rolle. In einem Bild von mir kann jeder sehen, was es für ihn ausmacht. Wenn du
hundert Leute hast, wird es hundert Interpretationen geben.“ (Michael Ramsauer,
ibd., p. 40). Das eigentliche Ziel in diesem Vorgang ist die Visualisierung eines guten
Bildes, ein Bild das funktionieren muss. Dann wird das Bild zum Kick oder auch zu
einer Therapie. Ramsauer sucht die Erkenntnis der Selbstverantwortung, die ein
grundlegender Baustein seiner Kunst wird.
Wichtig ist für den Künstler die Absage an das reine Abbild, da es ihm zu
unkritisch ist. Man kann von einem kritischen Realismus sprechen, der allerdings
nicht direkt politisch konnotiert ist, wie wir es eigentlich in diesen Jahren erwarten,
so z.B. die Künstler der Gruppe Aspekt mit Peter Sorge (1937-2000), Hermann Albert
(geb. 1937) und Ramsauers Lehrer Jürgen Waller. Ramsauers kritischer Realismus
ist selbstverantwortet und frei und baut sich aus der eigenen Gefühlswelt auf. Dabei
spielt die Unschärfe der Darstellungen eine bewusste und vom Künstler sehr reflektierte
Rolle, die Ramsauer erlaubt, sein Wissen über das Nachdenken in die visuellen
Sphären des Handelns zu überführen. Zugleich zwingt er die Betrachter über die
Unschärferelationen nachzudenken und die vom Bild ausgehende, mögliche Wirklichkeit
des unscharfen Abbildes mitzudenken. Er selbst sagt zu dieser bewussten
Unschärfe: „Wenn ich gesagt habe, die abstrakte Malerei funktioniert, heißt das, sie
ist eine Projektionsfläche. Was ich in meiner Malerei mache, ist, dass ich die Projektionsfläche
konkretisiere. Ich arbeite mit Unschärfe, aber anders als zum Beispiel
Gerhard Richter (geb. 1932), der ja der „peinture“ entkommen will. Das scheinbar
Unscharfe ist für mich selbst deutlich und stimmig. Ich male manchmal Gesichter
zigmal hintereinander, nur um das zu bekommen, was ich sehen will. Wenn eine
Figur für den Betrachter sehr unscharf ist, ist sie für mich vielleicht so präzise geworden
wie überhaupt nur denkbar“ (Michael Ramsauer, ibd. p. 38). Die Projektionsfläche
Leinwand, oft nur geleimt statt klassisch grundiert, ist eine gedankliche
und nicht eine Projektionsfläche für ein Foto wie z.B. bei dem Fotorealisten Franz
Gertsch. Die Projektionsfläche bestimmt die Größe des Bildes. Die Leinwand ist
beim Malprozess auf den Rahmen gespannt, sodass die Seiten des Bildes schon vor
dem malerischen Handeln festliegen und der Bildausschnitt nicht bei einer späteren
Aufspannung bestimmt wird. Deshalb sind die umgeknickten seitlichen Bildränder
der Leinwand keine Farbträger, wie sonst oft bei spontanen Malern, die erst zuletzt
den sichtbaren Ausschnitt des Bildes festlegen.
Die Findung der Formen ist also ein Prozess. In diesen Prozess wird der Betrachter
unmittelbar involviert, denn die Unschärfe ist eine Referenzoptik, auch
wenn er statt einer Serie nur ein einzelnes Bild erfährt. Er beginnt unmittelbar mit
dem Nachvollzug dieser nicht rein ästhetischen Prozesse. Er erkennt das Unscharfe
als richtiges Ergebnis an. Die Unschärfe basiert auf einem kunsthistorischen Prozess,
der bei Michelangelo beginnt und bei ihm ein ökonomischer war. Neue Aufträge
verhinderten die exakte Fertigstellung einiger Skulpturen, die als das berühmte
non finito in die Kunstgeschichte eingegangen sind. Auguste Rodin machte aus
diesem non finito ein Stilprinzip, das inzwischen besonders gerne von Bildhauern
angewandt wird, z.B. von Alfred Hrdlicka (1928-2009) oder auch Michael Schoenholtz
(geb. 1937), und besonders gerne von jenen Bildhauern, die eigentlich Maler in
ihrem Ursprung sind und eine malerische Plastik erdenken wie Edgar Degas (1834-
1917) oder Markus Lüpertz (geb. 1941), wie auch, in einigen kleineren plastischen
Beispielen, Michael Ramsauer.
Die Unschärfe als gedankliche Präzisierung verknüpft den Betrachter verstärkt
mit dem Kunstwerk. Der italienische Philosoph, Semantiker und Romanautor Umberto
Eco (1932-2016) benennt 1962 diesen Prozess als die Wirkung der ‚opera aperta‘,
des offenen Kunstwerkes. Dieses wird von jedem Betrachter anders gesehen und
durch die verschiedenen historischen und kulturellen Bindungen eines jeden Betrachters,
und auch morgens oder abends, bei Helligkeit oder Dämmerung, anders
erlebt. Das Werk vollendet sich im einzelnen Betrachter immer wieder neu. Dieser
Gedanke kann historisch weitergeführt werden. Es sind diese Eigenschaften, die es
dem Kunstwerk erlauben, in die Zukunft hineinzuwachsen und später Antworten
auf Fragen zu geben, die der Künstler selbst noch nicht gekannt hat. Es ist diese Nachhaltigkeit
der Diskussionsfähigkeit, die ein Bild leben lässt, ihm die Zukunft sichert
und zugleich der eigentliche Beleg seiner Qualität ist. Ramsauer baut diese Überlegungen
in seine Kunstwerke ein. So verhindert er den oft peinlichen, didaktischen
Zeigefinger, den heute viele Werke in der internationalen Kunstszene in sich tragen.
Zugleich gewinnen die Figurationen eine eigene Personalität, die ohne jegliche
Abhängigkeiten agieren kann. Die Figuren sind deshalb bei Ramsauer immer
mehr als Abbildung oder Darstellung. Sie werden zu Metaphern der menschlichen
Existenz, zu feenhaften Fabelwesen oder mythologischen Figuren aus der Antike,
die den Alltag des Menschen von heute bereichern, ihn mit phantasievollen Alternativen
beim Nachdenken über sich selbst füllen. Der Denker von Auguste Rodin
(1840-1917) versteckt sich in den Gedankenansätzen, ebenso die Badenden eines
Paul Cezanne (1839-1906), das Frühstück im Freien von Nicolas Poussin (1594-1665),
oder viele barocke Zeichnungen von einzelnen Personen oder Gruppen. Denn neben
ihrer Heutigkeit tragen die Bilder die Traditionen in sich, nicht als Zitate sondern als
ein Wissensgerüst für die Komposition.
Nelson Goodman ( Sprachen der Kunst, Frankfurt, 1955 ) beginnt seine Überlegungen
zu dem Thema „Wiedererzeugte Wirklichkeit“ (p. 15) mit einem verlorengegangenen
Zitat aus einem Aufsatz von Virginia Woolf (1882-1914):
"Kunst ist keine Kopie der wirklichen Welt. Ein solch verdammtes Ding ist genug."
III. HANDELN
Doch nicht nur Italien mit seiner Kunst übt auf den Künstler einen starken Einfluss
aus, sondern auch Berlin, wo er über Jahre ein Atelier hat, und Seoul. Auch hier entstehen
Figurenbilder, gibt es die Suche nach der eigenen, nur selbst zu verantwortenden
Verortung. Es entstehen 2010 vermehrt eindringliche Stadtbilder mit malerischen
Eindrücken bestimmter Orte Seouls, die den Künstler bildlich erfasst haben. Die Ölbilder
wirken mit ihren fast flüchtigen Details wie einprägsame Erinnerungen, Festhaltungen
in Öl statt mit dem Fotoapparat. Sie sind kein Guide durch die Stadt, bei
dem die historischen Höhepunkte aus der Geschichte aufgezeigt werden. Sie sind
von großer Privatheit bestimmt, wie wir sie aus den Formungen des Künstlers kennen.
Es sind Nachtbilder mit Titeln wie Nachtstadt, Nachtschwimmer, Bilder, in denen
man sich verlieren kann, doch Bilder mit menschlichen Gestalten mit Chimären,
eigentlich Bilder ohne Auswege, düster, bedrohlich, verängstigend. Aber sie zeigen die
Orte von Leben, Hoffnungen, Liebe und Tod. Jürgen Schilling schreibt über die Seoul-
Bilder Ramsauers, dass sie über die Wahrnehmung der Wirklichkeit hinausgehen:
„derartige Trugbilder bewirken eine emotionale Steigerung der mit expressivem
Verve und pastos-satten Farben auf die Leinwand gebrachte Malerei.“ in: Kat.: Matthias
Meyer, Michael Ramsauer, Seoul. On my mind, Galerie Korea, Berlin 2010).
Die Berliner Nachtbilder zeigen eine verdunkelte Stadt mit ungeahnten seherischen
Reflexionen. Sie sind die urbanen Orte, in denen sich der Künstler mit seiner
vielfältigen biographischen Verortung durch die Familie als Künstler zu Hause
fühlt. Es gibt Straßenengel, Hermelintaucher, Dönerbuden usw. Ramsauer verlässt
die Erfahrungen von 150 Jahren Fotografie. Christoph Tannert schreibt dazu: „Wenn
Ramsauer nach dem Prinzip Stadt forscht, steht alles farbgesättigt vor Augen und
muss nicht mehr erklärt werden. Hier setzt einer auf Farbe statt auf Zeigefinger ins
Nichts. Das Metropolitane fügt und lockert die Gesellschaft, vervielfältigt ihre Verknüpfungen
und Abgrenzungen, beschleunigt den Kreislauf von Auflösung und
Komprimierung. An diesem Prinzip scheiden sich die Geister. Dem Konservativen
ist unwohl in einer Welt, in der nicht alles am Platz bleibt. Ramsauer dagegen malt
Stadt als Möglichkeitsraum – auch ästhetisch ....
Gekennzeichnet werden Ramsauers Stadtbilder u.a. durch Elemente, die ihr
Recht auf Uneinheitlichkeit deutlich machen ... Da treffen kunsthistorische Rückgriffe
auf Lichtschwimmer, verformt in einem Wirbel von Tropfen. Malzeremonielle
Gesten widersprechen der Herrschaft des dummen Vorurteils, heutige Malerei sei
völlig altmodisch und von gestern ... Mehrschichtig sind diese Bilder, doppelbödig
nicht“ (in Katalog: Michael Ramsauer, Auswärtiges, Berlin 2009, p. 5).
Man kann die Bilder auch als eine Parallelaktion zur umgebenden Realität verstehen.
Vielleicht sind es die Traditionen der Familie mit ihren Bindungen in die
Schweiz und Österreich, also in den Süden und in die Nähe zu den Ländern der
K.u.K.-Monarchie, die diese Verknüpfung mit dem österreichischen Schriftsteller
Robert Musil (1880-1942) nahelegen. Dieser spricht, wissend um die Forschungen
Sigmund Freuds (1856-1939), in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von
einer politischen Parallelaktion, die sozusagen die kritische Durchleuchtung der
anderen Wahrheit als Begleitung der Ereignisse bedeutet. Bei Ramsauer ist die
Parallelaktion eine Suche nach sich selbst, jenseits der Realität der bewohnten Umgebung.
Sie erinnern an die Tradition der Nachtbilder von Alessandro Magnasco
(1667-1749) oder die Berliner Nachtbilder von Lesser Ury (1861-1931). Doch Ramsauer
steigert die Eindrücke. Seine Linien sind expressiv gesteigert, nicht linear definierend
wie in der romanischen und auch italienischen Kunst, sondern umschreibend,
verdunkelnd, hinterfragend. Die italienische Kunstgeschichte kennt dafür den Ausdruck
„Nordismo“ (vgl. G. Bott, D. Ronte, K. Rossacher, N., Salzburg 1986), eine stilistische
Eigenart jenseits der Alpen; Gegenden mit ständig sich änderndem Licht, dem
die Italienfahrer über die Alpen entgehen wollten. Die Bilder strahlen eine unheimliche
Spiritualität aus, wie sie Michael Ramsauer in den Romanen des Japaners Haruki
Murakami (geb. 1949) sich erlesen hat und die er hier visualisiert, ohne auf die
Ereignisfolgen der Romane einzugehen. Die Literatur wird eingedampft, eingedickt
und in düsterer Farbigkeit visualisiert, ohne dass dabei eine Nacherzählung entsteht.
Den Wechsel der Bildgattungen benennt Ramsauer selbst als einen agrarischen
Vorgang, der Bauer, der die Felder bestellt, aber nicht immer kontinuierlich, sondern
nach Jahren wiederkommend und erneut tätig wird, weil sein Interesse wieder ge-
weckt wurde. Das gilt für die Technik ebenso wie für die Inhalte. Im Prinzip aber
nutzt Ramsauer die Farbe als Material, so wie ein Bildhauer seine Steine oder seinen
Gips. Hier greift er auf die Erfahrungen der abstrakten Malerei in den sechziger Jahren
zurück, auf Alberto Burri (1915-1995) mit seinen Sackbildern oder auf Antoni
Tàpies (1932-2012) mit seinen Sandbildern, ebenso auf die im Gewicht schweren Bilder
von Emil Schumacher. Zugleich betont er die Dreidimensionalität der Malerei, so
wie es Lucio Fontana (1899-1968) mit seinen Schlitzen in der Leinwand und in seinem
Manifesto Blanco (1946) gefordert hat. Die Farbe dient zur Materialschlacht, nicht
zur Theorie über die Farben, wie sie das Bauhaus gelehrt hat, z.B. Josef Albers (1888-
1976) mit seinen berühmten Überlegungen über die „Interaction of Colours“ (1963).
Bei Ramsauer gewinnt die Farbe eine starke Selbstreferentialität als Agens innerhalb
der Kompositionen. Die Farben dienen zwar noch den Bezeichnungen von
Objekten, sie verdeutlichen noch, sind aber weit davon entfernt, Gestaltfarbe zu
sein. Damit befreit sich Ramsauer von theoretischen Bindungen, die er eben nicht
nutzen muss. Er konzentriert sich auf die eigene Problemlage, die Suche nach sich
selbst. Hierin ist er heftig, wie bei den Nachtbildern, oder fast poetisch, wie bei den
Schwimmenden, Stehenden, die an die bemalten Figuren von Marino Marini (1901-
1980) erinnern, oder Liegenden, seien es Najaden oder Akte. Wissen und Denken
werden in handelnde Bilder überführt. Das Denken wird zur Malerei und in die Kreativität
subjektiver Kondensate in Form von Bildern transformiert. Ramsauer nutzt
seine Optionen ästhetischen Denkens mit gefestigter Radikalität.
Ramsauer schreibt ein eigenes Kapitel zu dem Thema Leben und Kunst. Er
bringt sich selbst tänzerisch-gedankenvoll in die Realität der Kunst ein.
Sein Handeln ist:
nervös versus ruhig
aktiv versus passiv
neu versus alt
anders versus bekannt
ego versus alter.
Bei Ramsauer finden Vita, Neugier, Philosophie, Handwerk, Geschichte, Gegenwart,
Tradition, Zukunft, Handeln, Erleben, Wollen als Kunstwollen (Alois Riegl,
1904). Können und Realisierung verschmelzen zu einer bildnerischen Einheit. Die
Komplexität der Kunst Ramsauers ist eine Investition in sich selbst. Sie ist keine sinnliche,
stilistische Nische als kurzfristige ökonomische Garantie, die der Künstler
dann zeitlebens nicht mehr verlassen darf. Sie ist eine aktuelle Fortschreibung der
Kunstgeschichten und der Erfahrungen eines Menschen im 21. Jahrhundert.
Der Historiker Herbert Read spricht in seinem Buch ‚Bild und Idee‘ (Köln, 1955)
in dem ersten Kapitel über ‚Das lebensnotwendige Bild‘ als Grundlage der geistigen
Existenz. Sein Eingangszitat, eine sumerische Erkenntnis im dritten Jahrtausend vor
unserer Zeitrechnung aus dem Gilgamesch-Epos, soll hier die Überlegungen beenden:
"Du hast den mächtigen Wildstier geschaffen.
Nun schaffe sein Bild, für das Ungestüm seines Herzens schaffe ein Gleiches,
Lass sie miteinander kämpfen und lass Uruk Ruhe haben."
Dr. Harry Lehmann in Michael Ramsauer – Ein expressionistischer Maler in Zeiten der Naiven Moderne, Verlag Reiner Brouwer, Stuttgart 2006
Expressionismus – der kanonische Stil der Moderne
In einer seismologisch unauffälligen Landschaft, in dem barocken Städtchen an der Elbe, brach vor genau einhundert Jahren ein Vulkan aus – der deutsche Expressionismus. Das glühende Magma der Malerei trat erstmals an die Oberfläche der Bilder und ergoß seine Farbmassen in die Idyllen der Kunstgeschichte. Seitdem war dieser Lavastrom nicht mehr versiegt und es kam in den 20-er, 50-er und 80-er Jahren – im abstrakten Expressionismus, dem Actionpainting und bei den Neuen Wilden – immer wieder zu größeren Eruptionen. Im Vergleich zu allen anderen Stilrichtungen besaß der Expressionismus in der Museumskunst des 20. Jahrhunderts wohl die größte Kontinuität; er war das Feuer, das nie verlosch, das in jeder ästhetischen Epoche am Glimmen gehalten wurde. Allein am Ende des vergangenen Jahrhunderts, als die alten Medien von den neuen Medien verdrängt und die gemalten Bilder von den fotografierten ersetzt wurden, schien für einen Augenblick das Tafelbild als solches an sein Ende gekommen zu sein. Doch seit kurzem weiß man, daß dem nicht so ist. Auffällig ist allerdings, daß die Malerei heute nicht wie Phönix aus der heißen Asche des Expressionismus aufersteht, sondern daß ihre Renaissance viel eher mit der Wiederbelebung und Wiederentdeckung der figurativen, gegenständlichen Malerei zu tun hat. Kurz, der Expressionismus scheint aus der Mode gekommen zu sein – aber weshalb? Wieso konnte er sich über alle Krisen des letzten Jahrhunderts hinweg behaupten und sowohl in der Klassischen Moderne, wie in der Avantgarde und zuletzt noch in der Postmoderne seine eigene spektakuläre Schule hervorbringen, nur eben nicht heute?
Diese Fragen kamen mir in den Sinn, als ich die expressiven Bilder von Michael Ramsauer zum ersten Mal sah, und es schien mir, daß sie sich in diesem Spannungsfeld behaupten wollten und behaupten müßten. Ansonsten käme man ganz schnell zu dem ästhetischen Verdikt: sie seien naiv. Naivität allerdings wird derzeit in ganz neuer Weise für die Kunst zum Problem. Vergegenwärtigt man sich nämlich die großen Zäsuren der modernen Kunstgeschichte, dann wird eines evident: Die Kunst der Moderne war bis zuletzt am Materialfortschritt orientiert, an einer Überbietung der jeweils vorhandenen technischen Mittel, an der skandalträchtigen Negation dessen, was die vorhergehende Generation bislang geleistet hatte. In der Malerei hieß dies in allererster Linie: Preisgabe der Zentralperspektive, Ablösung von der Lokalfarbe und Deformation der Gestalt.
Die Geburt des Expressionismus stand noch unter dem alten Stern, durch eben diese Traditionsbrüche den Ausdruck der Kunstwerke zu steigern. In diesem Sinne verfolgten die Brücke-Maler ein ganz klassisches Anliegen und gehören dementsprechend zu den Hauptvertretern der Klassischen Moderne. Von da an geriet die Kunst aber in den Sog ihrer modernen Eigenlogik, die da hieß: »Alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht«. So war der abstrakte Expressionismus der Avantgarde bereits im weitesten Sinne »Konzeptkunst«, man mußte schon die informelle Konzeption kennen, um wahrnehmen zu können, was Informelle Kunst abstrakt zum Ausdruck bringen will. Als diese Logik der fortschreitenden Materialexperimente sich im Medium der Malerei erschöpft hatte, als die letzten Bilder gemalt waren, trat als Retter in der Not die Postmoderne auf den Plan. Sie brach mit dem Gesetz, die einmal benutzten malerischen Mittel nicht noch einmal zu benutzen, sie enttabuisierte auf ihre Weise das Tabu über die figurative Malerei – aber mit einem hochreflektieren Trick: mit einer ironischen Brechung, die den Kennern zu verstehen gibt, daß die ins Bild wiedereingeführte Figur nicht wirklich ernst gemeint ist. So bringt die postmoderne Malerei, bis heute, nur für den Laien wieder etwas zum Ausdruck. Für den Kenner hingegen spielt sie mit der Tradition, macht deren Versatzstücke als Zitate kenntlich, sie entzaubert die Abbildung mit einer ironischen Bildunterschrift oder – unübertrefflich – stellt das ganze Bild auf den Kopf. Diese doppelte Lesbarkeit der Bilder bezeichnet man deswegen zurecht als eine »Doppelcodierung« der postmodernen Kunst.
Doch der Name »Postmoderne« hält nicht, was er verspricht. Mit ihr beginnt keineswegs das zeitlose Zeitalter der Nach-Moderne. Sie bricht nicht wirklich mit der Materiallogik des Kunstsystems, genau genommen setzt sie diese – mit ironischen Mitteln – fort. Heute leben wir nun in einer Zeit, in der auch dieser strategische Witz als Stilmittel vorhersehbar geworden ist, so daß man auf den spöttischen Augenaufschlag und die versteckte Überlegenheitsgeste in den Bildern schon einmal verzichtet. Die Ironie hat als heimlicher Legitimationsgrund eines guten Bildes ausgedient, und dies ist auch der Grund, weshalb man wieder ganz naiv seine Bilder malen kann, als hätte es die ganzen Skrupel, Selbstkasteiungen und Verbote in der Malerei des 20. Jahrhunderts nie gegeben. Dementsprechend sind auch die großen privaten Sammler so frei, allein auf ihr eigenes Geschmacksurteil zu setzen und das zu kaufen, was ihnen ohne allen Selbstzweifel unmittelbar gefällt. Die postmoderne Kunst besaß noch einen starken Willen zur ästhetischen Brechung und war allein schon deshalb nicht naiv. In das Stadium ihrer totalen Infantilisierung gerät die Kunst erst heute, wo selbst diese letzte Selbstbeschränkung hinfällig geworden ist.
Deswegen, so meine ich, folgt nach der Postmoderne nicht etwa nichts, sondern eine »Naive Moderne«, welche selbst noch den ironischen Skeptizismus der Postmoderne überbietet, indem sie wieder ernsthaft, ungebrochen bei der Sache ist. Der Malstil, welcher dieser Tendenz zur Wahrheit, Wirklichkeit und Authentizität am besten symbolisieren kann, ist zweifellos – der Realismus. Die figurative, realistische Malerei war es auch, die bis heute vom Kunstsystem am nachhaltigsten ausgegrenzt wurde. Und zwar weniger, weil er im anderen Gesellschaftssystem zum Staatsstil erhoben wurde, sondern weil er an sich für traditionalistische Malerei und ein antimodernistisches Werkverständnis gestanden hat.
Aus diesem historischen Rückblick wird deutlich, weshalb ausgerechnet der Expressionismus zu ganz verschieden Zeiten im vergangenen Jahrhundert die Malerei wiederbeleben konnte. Die expressive Formensprache mit ihren Prinzipien der deformierten Figur und der falschen Farbe war sozusagen das Markenzeichen für Modernität in der Malerei. Heute aber, nachdem die Postmoderne erfolgreich vorgeführt hat, daß sich jede nur denkbare normative Differenz dekonstruieren läßt, nachdem es keine verläßlichen Unterscheidungen mehr gibt, an denen sich ein ästhetisches Urteil festmachen ließe – gibt es plötzlich auch keinen Grund mehr, den Realismus als Stil abzulehnen. Deswegen vollzieht sich die Renaissance der Malerei heute primär in einer Rückbesinnung auf die figurative, realistische Malerei und deswegen scheint auch der Zeitgeist heute erstmals seit einem Jahrhundert mit dem Expressionismus als dem kanonischen Stil der Moderne zu brechen. In diesen historischen Kontext fällt nun das expressive Werk von Michael Ramsauer, und die naheliegende Frage wäre entsprechend, ob und wie es sich hier zu behaupten vermag.
Verzögerte Wahrnehmung
Einem Werk gerecht werden heißt, es mit seinen eigenen Unterscheidungen wahrnehmen, die es uns zur Wahrnehmung anbietet. Was also ist zu sehen in den Gemälden von Michael Ramsauer? Mit welchen Differenzen arbeitet der Maler im Bild? Zunächst einmal kann man vier verschiedene Bildtypen unterscheiden: es gibt zum einen farbige Gemälde, welche menschliche Figuren in einer Landschaft hervortreten lassen, und solche, welche Menschen in einem abstrakten Farbraum darstellen. Und es lassen sich die schwarz-weißen Arbeiten noch einmal danach unterscheiden, ob sie eine schwarze Figur auf weißem Grund in ihrer ganzen plastischen Ganzheit und Fülle zeigen oder aus Licht- und Schattenflecken zusammengesetzt werden. Vier Extrempunkte, zwischen denen zur Zeit das Werk von Ramsauer entsteht.
Abb./Fig. 1: Bildnis
Oel auf Leinwand | 150x140cm | 2005
Eine weitere Auffälligkeit sind die Bildunterschriften, die sich unterschiedslos auf die verschiedensten Sujets beziehen. So gibt es zum Beispiel mehrere Gemälde, die den Namen »Bildnis« tragen, obwohl einmal ein sitzender Mann, ein andermal ein Frauenkopf oder das Brustbild eines Mädchens zu sehen sind. Wenn das Sujet aber so unwichtig wird, worum geht es dann? Diese Figuren im abstrakten Raum treten in vielen Variationen auch noch als »Liegende«, »Stehende«, »Sitzende« und »Gehende« in Erscheinung – sprich, es geht hier ein ums andere Mal um die basalen Möglichkeiten, wie eine menschliche Gestalt Raum einnehmen kann. Das heißt: Ramsauer arbeitet an klassischen bildhauerischen Themen im Medium der Malerei. Dem abstrakten Farbraum, in dem sich seine Figuren wiederfinden, entspricht der leere Raum, in dem sich die klassische Skulptur bewegt. Wenn man bedenkt, daß der Maler parallel als Bildhauer arbeitet, dann fragt man sich um so mehr, worin der ästhetische Mehrwert dieser Bilder besteht. Ich denke, es ist der emphatische Augenblick, wo die menschliche Figur aus dem Nichts in den Raum tritt, wo sie zur Gestalt wird. Dieses raumgreifende Moment setzt die Plastik – als Gegenstand, der uns körperlich entgegensteht – immer schon voraus, sie kann es aber nicht selbst darstellen. Die Malerei hingegen vermag die Wahrnehmungsdifferenz zwischen Figur und Grund unendlich zu verkleinern. Eine immer wieder zu beobachtende Technik von Ramsauers Malerei ist es, die abgebildeten Figuren mit den Farbräumen zu verschmelzen, wie etwa bei jenem sitzenden Mann (Abb. 1), dessen Gestalt von denselben gelblich-rötlichen Farbflecken überzogen wird wie der Stuhl, auf dem er sitzt, und wie der abstrakte Raum, in dem er sich befindet. Die Umrisse der Figur zeichnen sich allein in einigen wenigen weißen Umrißlinien ab, die ein Steiflicht von links oben auf ihn wirft. Der Bildtitel aber schickt den Betrachter weiter auf die Suche nach der im Gemälde verborgenen Gestalt. Zuerst nimmt man nur die zerborstene Kontur, einen Kopf, einen Oberkörper und einen Arm wahr. Hierbei zeigt sich eine wesentliche Qualität von Ramsauers Bildern, nämlich, daß sie sich dem Auge tatsächlich erschließen, je länger man den Blick an ihnen haften läßt. So erkennt man zum Beispiel nach einer Weile auch zwei Finger einer Hand, die auf einer Armlehne liegt. Und schließlich blickt man in das linke dunkle Auge dieses Mannes, erkennt seine Nase, interpretiert einen kleinen roten Flecken unter ihr als seinen Mund und nimmt schließlich das andere Auge als jenen runden weißen Lichtflecken wahr. Mit distanziertem Blick wird man plötzlich von diesem sitzenden Mann gemustert. Die Figur tritt uns in einer Präsenz gegenüber, wie sie es im Leben kaum jemals vermag. Aber weshalb?
Abb./Fig. 2: SW Maedchen
Oel auf Leinwand | 180x140cm | 2005
Die Gemälde von Ramsauer gewinnen ihre Wirkmächtigkeit gerade daraus, daß sie ihre Figuren auf der Schwelle der Wahrnehmbarkeit erschaffen. Nur wo die Aufmerksamkeit aufs äußerste gespannt ist, machen wir eine ästhetische Erfahrung, die berührt. Obwohl es heutzutage viel Kunst gibt, die ästhetisch nicht erfahrbar ist, bleibt es nach wie vor eine große Möglichkeit der zeitgenössischen Kunst, Werke zu schaffen, welche die Imaginationskraft ein ums andere Mal fordern. Aus demselben Prinzip wie jene Figuren im abstrakten Raum leben auch die anderen Bildzyklen. Ich würde es das »Prinzip der verzögerten Wahrnehmung« nennen, dem Ramsauers Bilder folgen – es wird nur in den unterschiedlichen Werkzyklen verschieden konkretisiert.
Die schwarzen Figuren auf weißen Grund, wie z.B. jenes »Mädchen« (Abb. 2), verlagern dieses Prinzip nach innen. Der Umriß der Figur hebt sich gestochen scharf auf dem Hintergrund ab, sie läßt sich mit einem Blick erfassen; was erst langsam aus den zentimeterdick aufgespachtelten pechschwarzen Schichten hervortritt, sind die Binnendetails. Weiße Glanzlichter liegen auf der Figur als sei sie aus glattpoliertem Metall, etwa auf ihrer linken Schulter, im Haar oder an ihrer rechten Stirn. Im Spiel von tiefschwarzen Schatten und mattgrauem Widerschein modelliert das Licht eine Plastik auf der Leinwand. Eine Brust tritt hervor, die Schulterpartien werden voluminös, der Kopf gewinnt seine Form und schließlich trifft den Betrachter auch hier wieder ein distanzierter Blick aus einer dunklen Augenhöhle, neben der sich eine helle Nasenpartie abzeichnet und zu der man, durch einen weißen Lichtschimmer hindurch, das andere Auge zum Augenpaar findet. Auch diese schwarz-weißen Bilder sind so geschaffen, daß sie die Wahrnehmung des Betrachters zur Selbstorganisation nötigen, zum schrittweisen Zusammenfügen der Bildelemente mit Hilfe der eigenen Vorstellungskraft. Wo diese Kraft nicht aufgebracht wird oder wo sie nachläßt, verflacht und verschwindet das plastische Bild.
Abb./Fig. 3: Badende
Oel auf Leinwand | 160x140cm | 2003
Doch wozu die ganze ästhetische Anspannung? Weshalb wird die Grenze der Wahrnehmbarkeit in den Bildern derart künstlich verschoben? Ist es allein der artistische Wille, Dinge sichtbar werden zu lassen, die man ansonsten nicht sieht? Spätestens wenn man sich jenen dritten Typus von Bildern zuwendet, in denen sich der Raum hinter den Figuren zur Landschaft weitet, wird klar, daß Ramsauers Werk mehr als bloß eine Wahrnehmungsschule sein will. Man erkennt hier deutlicher als sonst die Formentscheidungen und den Gestaltungswillen, die in diesen Bildern stecken und konträr zum expressionistischen Gestus der zügellosen Entgrenzung stehen. Die Monochromie der Bilder offenbart hier nämlich einen Sinn, den die im abstrakten Raum stehenden, liegenden, sitzenden, kauernden, gehenden, sich bückenden oder sich streckenden Figuren kaum preisgeben: Sie werden von der Atmosphäre ihres Raumes durchdrungen und verschmelzen auf die ein oder andere Weise mit der sie umgebenden Natur. Besonders deutlich wird dies etwa im Bild »Badende« (Abb. 3), in dem sich die Figuren allein vermittels einer weißen Umrißlinie vom rotgoldenen Grund abheben. Die Frau im Vordergrund wird ganz transparent für die Stimmung, in welcher die sonnendurchflutete Strandlandschaft liegt. Links von ihr ist eine Uferlinie zu erkennen, die von den Lichtreflexen des anbrandenden Wassers sich bis zur Horizontlinie schlängelt, die wiederum das gesamte Bild im goldenen Schnitt unterteilt. Der Verweis auf die Landschaft ist im Titel dieses Bildertypus fast immer enthalten. Die Gemälde heißen »Feld«, »im Feld«, »Landschaft«, »Liegende in Landschaft«, »Badende« oder »Badender«, »Weide« usw. Diese Hinweise sind unverzichtbar, weil sie eine Suchrichtung für den Betrachter vorgeben. Würde man ansonsten in diesem Bild nach Wasser Ausschau halten, daß sich allein an den feinen Unterschieden im Pinselstrich zeigt?
Abb./Fig. 4: Reiter im Feld
Oel auf Leinwand | 50x60cm | 2005
Am deutlichsten wird diese Arbeitsweise bei dem »Reiter im Feld« (Abb. 4). Ohne das explizite Bildkonzept bliebe das Gemälde abstrakt. Der Interpretationsspielraum wird durch den relativ unbestimmten Titel aber soweit eingeschränkt, daß ein sich selbst vorantreibender Wahrnehmungsprozeß in Gang kommen kann: man erkennt zunächst die nach vorn gebückte Gestalt mit Kopf und zwei Armen, die in typischen Reiterhaltung die Zügel halten dürfte. Damit ist in etwa das Ort markiert, wo sich in dem Getreidefeld der Pferdekopf befinden müßte. Und wie immer halten Ramsauers Bilder, was ihr Titel verspricht: In der Verlängerung der beiden Armstriche verwandeln sich die Stoppeln auf dem Acker in eine weiße Mähne, unter der schemenhaft ein Tierkopf hervorlugt. Entscheidend ist wiederum, ob man das linke dunkele, rötlich gemalte Auge entdeckt; dann erkennt man auch auf der gegenüberliegenden Seite die markante Umrißlinie eines Pferdekopfes mit seinen Nüstern. Wie sonst auch die Menschen in Ramsauers Bildern schauen, schaut auch dieses Tier, leicht von unten blickend, aus dem Bilde hervor. Schließlich gewinnt auch der Reiter noch an Gestalt – sein linker Oberschenkel, sein Knie und ein Fuß im Steigbügel scheinen durch den Wildwuchs der Farbe hindurch. Unter den Hufen des Reiters gewinnt die Farblandschaft dann auch ihre Tiefe und öffnet sich in einen unendlich weit scheinenden Raum. Die Horizontlinie wird hier nicht einmal, wie bei den Badenden (Abb. 3), mit einer schwachen Linie angedeutet, wo ein kleiner weißer Strich in Schulterhöhe der Frau die Proportionen definiert. Beim »Reiter im Feld« ist es allein die Pinselschraffur, mit welcher der Maler Erde und Himmel teilt: der mit gelblich weißen Farbstriemen gemalte Acker weicht im oberen Viertel des Bildes einer viel ruhigeren, glatten Oberfläche. Dies ist ganz deutlich auf der linken Bildseite der Fall; auf der rechten laufen die in den Farbmassen sich abzeichnenden Linien auf einen einzigen Fluchtpunkt im Rücken des Reiters zu. Gerade weil das zerfurchte Feld hier in die zerpflügte Wolkenwand übergeht, weil der Horizont am rechten Bildrand wieder verschwimmt, gewinnt das ganze Bild eine unergründliche Tiefe.
Abb./Fig. 5: Badende
Oel auf Leinwand | 70x80cm | 2004
Noch einmal anders als im roten Bild von den Badenden und im bräunlichen Bild des Reiters im Feld entsteht bei dem grünen Bild »Badende« (Abb. 5) aus der abstrakten Farbfläche der konkrete Landschaftsraum. Zwei vom Grün einer Wiese durchschienene Figuren stehen mit den Füßen im Blau eines Gewässers, in dem sich weiß das Licht reflektiert. Der Mann, sein Rücken und sein Gesäß, ist von hinten zu sehen, er räkelt sich in einer antiken Pose; daneben eine Frau, deren Kopf, Schultern und Brüste im Sonnenschein glänzen. Dimensioniert wird dieser Naturraum auf der linken Bildseite aber erst – in seiner ungefähren Abfolge von Wasser, Wiese, Wald –, indem rechts neben dem Paar der Himmel in hellen Lichtflecken durch das verzweigte Gebüsch tritt. Hat man diesen Bildaufbau erst einmal im Blick, nimmt man auch den breiten Wiesenstreifen wahr, der über den Figuren in die Ferne führt.
Abb./Fig. 6: Badende
Oel auf Leinwand | 50x50cm | 2005
Im Gegensatz zu diesen quasi monochromen Bildern gibt es auch eine ganze Reihe von Gemälden, welche die farbliche Abstraktion noch weiter zurücknehmen und die Lokalfarben der Landschaft symbolistisch überhöhen, also zum Beispiel wie bei den »Badenden« (Abb. 6) den Abendhimmel dunkelrot und das Wasser tiefblau leuchten lassen. Die Körper und die fließenden Wassermassen treten in den Streiflichtern der untergehenden Sonne besonders plastisch hervor. Durch die starken Farbkontraste legt sich unweigerlich die Stimmung einer Götterdämmerung über die Landschaft, welche ihren eigentlichen Bestimmungsort wohl eher in den mythologischen Themen dieser Bilder findet.
Abb./Fig. 7: SW am Baum
Oel auf Leinwand | 160x160cm | 2003
Bevor wir uns abschließend der offenen Frage zuwenden, wohin jene absichtsvoll verzögerte Wahrnehmung den Betrachter von Ramsauers Bildern führen mag, welche Art von Expressionismus diese Arbeitsweise hervorbringt und wie sich ein derart klassisch moderner Stil im Zeitalter einer naiv gewordenen Moderne behaupten kann, möchte ich noch kurz auf eine vierte Werkgruppe eingehen, die sich in diesem Ausstellungskatalog findet. Gemeint sind jene Arbeiten, die wie »SW am Baum« (Abb. 7) in einer ganz extremen Weise die Umrißlinie der Figuren auflösen, so daß man dazu genötigt ist, die bloße Leinwand als Partien eines vom Licht durchfluteten Körpers zu sehen. Die Arbeitsweise aus den monochromen Bildern, bei denen der farbige Grund durch die Figur hindurchscheint, wird hier auf das Schwarz-Weiß-Bild übertragen. Zunächst einmal ist überhaupt nicht klar, was sich hier »am Baum« befindet; man könnte beim ersten flüchtigen Hinsehen auch eine abstrakte Komposition in dieser Arbeit sehen, in der wie bei dem schwarzen Mädchen in dicken Schichten die pechschwarze Farbe aufgespachtelt ist. Ein winziger schwarzer Punkt in der horizontalen Bildmitte, im oberen Drittel gelegen, läßt erst die Figur in Erscheinung treten: es handelt sich wieder einmal um die dunkle Augenhöhle eines Kopfes, dessen rechte Gesichtshälfte vollkommen im gleißenden Sonnenlicht verschwindet. Wie in einem Vexierbild muß man die verschiedensten Sichtmöglichkeiten ausprobieren, bis das abstrakte Bild in seine konkrete Gestalt kippt. Von diesem archimedischen Bildpunkt aus organisiert das Werk die zerstreuten Wahrnehmungen des Betrachters und fügt sie wie ein Puzzle zusammen. Zwei Lichtflecken liegen auf der Brust einer Frau, die mit der linken Schulter an einem schräg ins Bild wachsenden Baumstamm lehnt. Wiederum blickt diese Licht-und-Schatten Gestalt uns mit leicht nach unten geneigtem Kopf an, streckt ihren rechten Arm schräg nach vorn. Arm und Kopf und drei auf einer Linie stehende Baumstämme sind klar zu erkennen, aber an welchen Linien und Flecken sollte sich hier noch ein menschlicher Leib bestimmen? Die schwarz-weiße Figur wirft ihren eigenen Schatten und verschmilzt bis zur Unkenntlichkeit mit ihnen. Der Betrachter muß – wenn er das Bild und nicht bloß sein eigenes Phantasiebild sehen möchte – mit dem Auge den im Schatten liegenden Körper von dessen Schattenwurf trennen. Dann zeigt sich, daß der zweite schwarze Streifen, der sich vom rechten unteren Rand ins Bild schiebt, nicht etwa zum rechten Baumstamm gehört, sondern der Schatten ist, den die Stehende auf den Boden wirft und der hinter dem Baumstamm fleckig wieder hervortritt. Ein leicht angewinkeltes und ins gleißende Sonnenlicht vorgestrecktes linkes Bein tritt nun als weiße Fläche an der Figur hervor. Mit ausladender Armbewegung lehnt sie lässig mit der Schulter am Baum, vermutlich das linke Bein über das rechte geschlagen. Wenn sich derart die Bildsegmente zum Bild gefügt haben, kann man schließlich auch noch eine senkrechte, zwischen Stamm und Köper herabgezogenen Linie entdecken, die sich just dort wiederfindet, wo man den linken herabhängenden Arm des am Baum lehnenden Menschen vermuten würde. Selbst hier, wo sich nur noch die schwarze Farbe von schwarzen Farbkrusten unterscheiden läßt, macht das Bild Unterscheidungen, die einen Unterschied machen, d.h. eine Gestalt hervortreten lassen oder nicht.
Entstilisierter Expressionismus
Die Malerei nach der Postmoderne tendiert zum Realismus und wird naiv. Auch dies läßt sich beklagen und begrüßen zugleich. Auf der einen Seite kann man überhaupt wieder ohne strategischen Vorbehalt in alten Medien wie der Malerei arbeiten, auf der anderen Seite fällt mit der ironischen Brechung auch die Immunisierung der Bilderwelten gegen ihre kunsthandwerkliche Banalisierung fort. Das heißt nichts anderes, als daß die Malerei, naiv, wie sie geworden ist, ihren Kunstbegriff preisgibt und zu einem Segment im Luxusdesign wird. Diesem Schicksal entziehen sich Ramsauers Bilder vorab: Sie fordern von ihren Betrachtern Zeit für die Wahrnehmung, sie verlangen ihm eine Arbeit des Sehens ab – und lassen die konsumierenden Blicke ins Leere schauen.Auf diese Weise kann das je einzelne Bild seinen Kunstcharakter behaupten, bzw. es kann und muß diesen Beweis ein ums andere Mal führen. Was aber bedeutet dies für den Expressionismus als Stil, in dessen Traditionslinie dieses Werk doch ganz offensichtlich steht? Die wichtigsten Stilmittel des Expressionismus, die deformierte Gestalt und die verfälschte Lokalfarbe kommen bei Ramsauer anders als gewohnt zum Einsatz. Standen sie vor einhundert Jahren im Zeichen der Entgrenzung – der Malerei und des Subjekts – so scheinen sie nun ihren Richtungssinn geändert zu haben. Zwar sprengen diese Bilder wie ehedem die Form – die Linien werden zerstückelt, die Flächen zerbrochen, die Farben verfremdet –, aber die gesprengte Form steht nicht mehr einfach im Zeichen der Befreiung – der Wahrnehmung, des Menschen, der Welt. Die Emanzipation der Form dient bei Ramsauer vielmehr der Formfindung: der Faszination daran, daß auch im Bereich der möglichen Sichtweisen eine bestimmte Sichtweise prägnanter als alle anderen sein kann. Seine Bilder sind weder bestimmt noch unbestimmt, sondern bestimmen sich selbst. Die Selbstprogrammierung seiner expressionistischen Werke konterkariert damit den Expressionismus als Stil, man könnte auch sagen, der Expressionismus wird entstilisiert. Genau dies scheint mir die einzig mögliche ästhetische Einstellung zu sein, mit der man heute in einem traditionellen Stil arbeiten kann, ohne das entsprechende Genre naiv zu bedienen.
Wenn das Banner des Materialfortschritts nicht mehr auf den Bastionen des Kunstsystems weht, dann muß der Begriff von Neuheit, Avanciertheit und Modernität noch einmal neu definiert werden. Auf Neuheit kann die Kunst unter keinen Umständen verzichten. Für den Gebrauch der alten Medien gilt dann, daß die Selbstprogrammierung des einzelnen Werkes sich gegen das Programm seines alten Stils durchsetzten muß. Wie aber verhält es sich mit den alten Sujets, mit den alten Themen und Motiven der Malerei? Was können uns die gemalten Figuren in ihren sitzenden, liegenden, gehenden und stehenden Posen noch sagen? In welchem Sinne können jene Badeszenen heute noch von Interesse sein? Das Werk von Ramsauer scheint um eine ganz bestimmte Sinnstelle zu kreisen, um eine bestimmte Haltung des Menschen, der er mit einem Bild ein ums andere Mal zum Ausdruck verhelfen will. Wenn man sich noch einmal der Reihe nach den im gelben Farbraum sitzenden Mann, das schwarze Mädchen, die verschiedenen Badenden, den Reiter im Feld und jene Frau am Baum anschaut, dann ist ihnen eines gemeinsam: Ihre Gelassenheit, mit der sie je für sich stehen. Ganz gleich, ob sie im abstrakten oder im realen Raum erscheinen – sie ruhen in sich selbst. Hierin liegt wohl der über die reine Bildästhetik hinausweisende Sinn, weshalb diese Figuren mit ihrer Umgebung bis zu Unkenntlichkeit verschmelzen und jeder Blickkontakt mit ihnen den Betrachter auf Distanz hält. Kein Wunder, wenn sich die in den engmaschigen Netzen sozialer Abhängigkeiten gefangenen Zeitgenossen an diesen Bildern – mit ihren sich selbst genügenden Menschen – nicht satt sehen können.
Im Zeitalter der Naiven Moderne finden die alten Medien der Kunst wieder zu sich selbst; sie müssen nicht notgedrungen in ihrem jeweiligen Material fortschreiten, es genügt jetzt, das Material zu beherrschen. Für eine solche Kunst, die sich an die alten Medien und Stile hält, bedeutet dies: daß sie schwierig ausfallen muß. Sie wird dem Betrachter eine Arbeit des Sehens abverlangen, die ihn seine Welt neu sehen läßt. Nur so kann eine in der Tradition verhaftete Malerei wie die von Michael Ramsauer das leisten, was sie als zeitgenössische Kunst leisten muß: Bilder zu machen, die uns wichtig sind.