PUBLIKATIONEN
Diese überreich konzipierte Ausstellung verführt und überwältigt. Sie spiegelt weltläufige Kunstentwicklungen wieder, die in den Diskursen der letzten zehn Jahre beobachtet werden konnten, artikuliert in drei unterschiedlichen künstlerischen Positionen. Als Generalbasslinie tritt das Thema „Natur“ hervor, die Frage nach dem Natürlichen, nach der Natur der Frau, des Mannes, nach Umwelt, Landschaft, Pflanze, nach Restnatur und dem Schutz von Ressourcen.
Von der Menschengesellschaft ist anscheinend keine Rede; das Nachdenken über diese bleibt den Besuchern und Besucherinnen überlassen. Jedoch nicht derart, dass diese das Nachsinnen auch unterlassen könnten. Die Bildwerke induzieren bestimmte Gedankenketten: einem bewegten Magnetfeld vergleichbar, das eine Spannung induziert und uns anzieht. Und wenn wir uns dann voller Interesse vom Sog des Augenfutters packen lassen, geht es natürlich auch um Material.
Vielleicht geht es ja in der Kunst überhaupt nur um die Natur des Materials und all die Debatten, die um das Außerkünstlerische geführt werden, überlagern das Eigentliche der Kunst, die zuweilen abwegige Sinnlichkeit des Stofflichen, die gleißenden Sonnenreste, die sich in den Oberflächen brechen, die farblichten Spuren der Pinsel, der Siebdruckrakel, der Kamera. Jedes Bild ein Zeitzünder.
Mit Sicherheit stolpern Sie auf jedem Quadratmeter dieser Ausstellung über Knotenpunkte intellektueller Debatten. Sie können jederzeit die streng strukturierte und über den jeweiligen Personalstil gerundete Zeichenlandschaft verlassen und aufbrechen in Diskussionen über all die Übel dieser Welt und die menschliche Täterschaft in Bezug auf Zerstörung der Natur. Lohnenswerter finde ich, sich an der Natur der Fotografien, der bemalten Leinwände oder der Skulpturen und Zeichnungen zu reiben und zu laben. Ich möchte Sie ermuntern, sich der Zweckfreiheit der Kunst zu ergeben. Der Decodierungsschlüssel liegt in der Farbmasse, im auratischen, eigenweltlichen Wildheitsraum des tanzenden Pinsels bei Gabi Streile, in den herausskulpierten Gnubbeln und Schäften, den Kelchformen, der figurativen Dichte des Plastischen bei Mäder-Gutz und der Doppelbödigkeit der fotografischen Inszenierung bei Kerscher.
Künstler und Künstlerinnen haben oft einen notorischen Drang, Gutes zu tun. Ich sehe darin im Kernbereich der hiesigen Ausstellung freilich weniger ein zeitübergreifendes Bekenntnis zum Naturschutz eines Mensch-organisierten Ökosystems (was durchaus erwünscht ist) als vielmehr ein energiegeladenes Im-Schöpfungsprozess-Stehen, ein künstlerische Natur schaffendes Tätigsein, das nach künstlerischen Qualitätsmaßstäben gut sein will und muss.
Diese Ausstellung ist ästhetische Power und sie hat mobilisierendes Potential.Der ständigen Ökonomisierung unseres Lebens setzt Joseph Kerscher mit seinen großformatigen Fotografien der Serie „Physis“ das Erlebnis akribisch ausponderierter Farbverhältnisse und gekonnt gesehener Gestaltformationen entgehen. Mit einer hochauflösenden Kamera pirscht er durch die Landschaft und bricht mit kreativen Eingriffen ein in die Rhizome diverser Mikrostrukturen. Zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten. Er öffnet beispielsweise die Oberflächen von Algenfeldern auf Wasserflächen, deren Farbe sich je nach Intensität der Sonneneinstrahlung und dem Einsatz von Kunstlicht markant verändert. Kerschers vermeintlich leuchtende Inseln des Glücks sind Ausdruck größter Verlorenheit. Das Schöne und das Vergiftete kommen hier auf entblößte Art zusammen.
Als ob sie die Selbstregulierungsmechanismen der Natur restituieren wollte, provoziert Gabi Streile auf ihren Leinwänden Farbausbrüche und ein Ausagieren im pinselwuchtig Unbestimmten abstrakter Sächlichkeit, dass man meint, die eigenen Pupillen würden Feuer fangen. Selten hat man solche in zyklischer Permanenz heizenden Hochöfen im Keilrahmengeviert gesehen. Ihr 12er Pack Rosen duftet nach Aufruhr, ihre Landschaften, egal ob „feurig“ oder „sanft“, sind Ausnahmefälle mit Ausrufezeichen, gerade weil junge Maler und Malerinnen ihre Relevanz heutzutage hauptsächlich aus der Vergangenheit ableiten, aus den Zeiten, in denen alles irgendwie ein wenig mystischer, aufregender war, dabei schreibt sich Qualität in der Gegenwart aus der Sprengkraft der Authentizität und des eigenen Erlebens fort.
Streiles 20 Aquarelle „Rosen“ wiederum sind spirituelle, ekstatische, in die Weiten des Freejazz reichende Höhenflüge im Miniformat, in denen die Künstlerin einfach ihrem Instinkt folgt und dem malerischen Flow auf eine faszinierende und selbstverständliche Weise freien Lauf lässt. Weich, gerundet, floral knospend zeigen sich die Holzfiguren von Ellen Mäder-Gutz. Diese Künstlerin schöpft aus der gesamten Palette der Holzbearbeitung und -behandlung, aus der Erscheinung von Natur, mit imaginierten Gesten von Natürlichkeit, die uns, die wir Natur sind, insbesondere das Leibliche, einschließen.
Die menschliche Natur in diesem Sinne, Physis, ist die Natur, die wir selbst sind, der Leib. Alles, was mit ihm zusammenhängt und was uns aus ihm erwuchs, ist momentan im Fluss der Neubestimmung durch menschlichen Selbstentwurf. Zwar wird die Spannung zwischen Faktizität und Entwurf für jeden Menschen immer erhalten bleiben, die Grenze selbst aber steht zur Disposition.
Deshalb ist nicht eindeutig bestimmbar, kann nicht formuliert werden, was wir hier sehen und ich werde Ihnen nicht verraten, was ich in der Unterscheidung von Faktizität und Entwurf identifiziere. Aber seien Sie versichert, Sie sehen mich hier als kritischen Optimisten eines versöhnten Lebens in der Annahme der Unvollständigkeit der Natur. Und ich bin dabei mich zu verwandeln. Mir gefällt, wie Ellen Mäder-Gutz nach Formen sucht, in Holz, im Siebdruck, im Transferdruck, in der Zeichnung sowie in Gestricktem und Gewebtem, das gleicht einer Suche nach der erfahrbaren Wirklichkeit und dem transzendenten Wesen der Natur. Wie Neugier und Erfahrung, Witz und Bodenständigkeit, Erotik und kühle Kalkulation zusammenfinden, zeigt, dass die Künstlerin den genau richtigen Zeitpunkt gewählt hat, um im Ensemble mit Kerscher und Streile jedes männliche Gegenüber gleichsam sanft janusköpfig zu distanzieren.
Dem Begriff Natur kann heute keine Eindeutigkeit mehr zugeschrieben werden. Das Vertraute wird uns fremd, das Ferne wird uns nah. Definitionen und Einstellungsdispositionen wandeln sich. Ellen Mäder-Gutz gestaltet diesen Wandel mit in der materiellen und konzeptionellen Wandelbarkeit ihres ästhetischen Ansatzes. Natur wird für sie immer mehr zu dem, was sie selbst sich darunter vorstellt. Und darin liegt sie mit ihrer formalen Vielfalt auch völlig richtig und an neuen Vorstellungen mangelt es ihr nicht.
Diese Ausstellung ist ein Refugium, eine faszinierende Schutzzone der Natur-Betrachtung und der künstlerischen Natur-Erschaffung. Die Natur ist auf die Beobachtung durch den Menschen nicht angewiesen, aber ohne Beobachtung und ohne Beobachtende gibt es zwar Wachsen und Gedeihen, aber keine Natur.
VERÖFFENTLICHUNGEN
Hans Albert Peters, Einige Stecknadeln im sprichwörtlichen Heuhaufen, Katalog Forum Junge Kunst, Stuttgart 1979
Rainer Braxmaier, Über die Lust beim Malen, Katalog Gabi Streile, Malerei, 1985
Dorothée Bauerle, Katalog Gabi Streile, Malerei 1985
Wolfgang Hartmann, Tannenbaum und Mikrochip, Katalog Gabi Streile, Malerei, 1985
Günther Wirth, Barrikade oder Elfenbeinturm, Sparkasse Karlsruhe, 1986
Rainer Braxmaier, Vom Fließen der Landschaft, Katalog Landeskreditbank, Stuttgart, 1986
Ruth Händler, Der Natur ihre Gewalt lassen, ART/Nr. 10/87
Andreas Vowinckel, Editorial Nordstern, Köln, 1988
Barbara Heuss-Czisch, Zeitgrenzen - Schramberger Symposium, Podium Kunst, Schramberg, 1988
Rainer Braxmaier, Die Beharrlichkeit der Anschauung, Katalog Gabi Streile, Galerie Haus Geiselhart, Reutlingen, 1989
Barbara Lipps-Kant, Frauenkunst - Kunst von Frauen - Kunst?, Katalog Künstlerinnen aus Baden-Württemberg, Landesgirokasse Stuttgart, 1992
Bernd Künzig, Katalog Begegnungen, Stadt Bühl, 1994
Rainer Braxmaier, Katalog Gabi Streile Natura duce optime vivitur, Museum im Ritterhaus, Offenburg, 1998
Ariane Grigoteit, Landschaften eines Jahrhunderts, Katalog Sammlung Deutsche Bank Frankfurt / Main 1999 Dr. Margrit Brehm, Malerei als Weltaneignung, Katalog Gabi Streile, Hanna-Nagel-Preis 2002
Dr. Ehrenfried Kluckert, Künstlerisch erfundene Natur, Regio Magazin 9/2004
Rainer Braxmaier, Die Kunst im Topf, Katalog Gabi Streile, Tulip, 2005
Dr. Dietmar Schuth, Asparagus, Katalog Gabi Streile, Asparagus, 2007
Dr. Susanne Ramm-Weber, "Komplementär", Katalogtext zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Offenburg/Mittelbaden (mit Werner Schmidt)