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Dr. Dorothée Bauerle-Willert. 2018
Rede zur Austellungseröffnung von ANDREAS THEURER und SAM GRIGORIAN am 26. Oktober 2018 in der Galerie Tammen & Partne
Lieber Andreas Theurer, lieber Sam Grigorian, lieber Herr Tammen, meine sehr verehrten Damen und Herren
Ich freue mich sehr, der schönen Ausstellung ein paar Gedanken beifügen zu dürfen und danke herzlich für die Einladung zu den Arbeiten zu sprechen.
Auf den ersten Blick bringt die Ausstellung zwei unterschiedliche künstlerische Positionen zusammen, die dann doch Verbindungen, visuelle Korrespondenzen aufweisen und herstellen. Verbindungen ergeben sich beispielsweise in der Wahl des fragilen Materials Papier und seiner Bearbeitung: der Einsatz von Knicken und Faltungen, die beide Künstler ganz individuell vornehmen, stellt solche Brückenschläge vom einem zum anderen her. Auch ihr wagemutiges Spiel mit Perspektiven und ihrer Irritation ergibt solche Brückenschläge - mit dem Imaginären als Widerlager - die das einsinnige Entweder - Oder der Medien und Vokabulare unterlaufen.
Das Kunstwerk - nach einem Diktum von Picasso – „ist längst entlassen aus der schwachsinnigen Tyrannei der Gattungen. Es ist nicht länger dies oder das. Es ist!“ Erledigt ist die Gattungsfrage damit aber nicht; bis heute werden durch und mit dem je spezifischen Kunstwerk die Fragen nach Gattungen und Medien weitergetrieben, reflektiert und untersucht und viele der interessanten gegenwärtigen Kunstwerke lassen sich nicht so einfach in einer Disziplin arretieren. Die Wahrnehmung von Kunst ist – auch – ein Wechselspiel zwischen vielfach geschichtetem medialem Material, ein Navigieren ohne vorab gesetzte Hierarchisierung.
Die Reliefs von Andreas Theurer, die wir hier sehen, sind Zwischenwesen, haptische Bilder. Dabei führt die Geschichte des Reliefs an die Anfänge von Kulturen zurück: das aus der Felswand wie aus dem Schlummer erwachende Volumen oder die eingehölte konkave Form sind der Beginn aller Skulptur - und, wenn wir dem Mythos folgen, liegt in dem aufgefüllten Schattenriss, der Zeichnung und Material verbindet, auch die Urform der Kunst als Instrument der Wiederholung, der Vergegenwärtigung des Abwesenden, einer existentiellen Erfahrung.
Erst später kommt die freistehende Skulptur zu ihrer dominanten Rolle - und seither kann man eine ständige skulpturale Doppelstimme zwischen der an die Fläche gebundenen und der freistehenden Form vernehmen - und es ist, als ob die Arbeiten von Andreas Theurer hier in der Ausstellung diese Doppelstimme wieder einmal erklingen lassen. Die Skulpturen und die Reliefs umspielen, erspielen jeweils das Verhältnis zwischen Raum und Fläche, zwischen Körper und Zeichen. Seine Figuren aus Wellpappe sind präzise aus diesem eher banalen Material gedacht. Als abstrakte Formen, aus geometrischen Grundelementen entwickelt, changieren sie doch zwischen organischem Körper und kubischer Konstruktion und setzen so Wahrnehmung in Gang, öffnen sich zum Raum, gehen um mit dem zerbrechlichen Kontinuum, das unser Leben ist und reflektieren zugleich über die Setzungen der Kunst, über Material, Zeichnung, Bezeichnung, Malerei und Kontur.
In seinen Double Visions, den Raumgebilden an der der Wand setzt Andreas Theurer seine Untersuchungen fort, nun mit Tableau-Objets, die Innen und Außen, Malerei und Skulptur, Anwesenheit und ihr Schatten ineinander kippen lassen und so die Wahrnehmung des einen oder anderen immer neu miteinander verknüpfen. Zugleich wird wiederum die Rückführung der Skulptur zum Wandobjekt wie die Aufsprengung der Zweidimensionalität des Bildes aus dem Material selbst entwickelt: Die Flächen der Pappe sind ja schon in ihrer Binnenstruktur eigentlich Reliefs, gesteigert durch die materiale Bearbeitung der Oberfläche, die dann durch Knicken, Falten in den Raum erweitert werden - Konstruktionen, die in der Bemalung der Fläche, in der in doppelter Hinsicht räumlichen Struktur der Objekte zwischen Bild und Skulptur changieren. Zugleich erkunden sie als Relief Übergangssphären zwischen Nahbild und Fernbild. Auch die Vorstellung ist ja eine Mischerin. Die Erfahrung von Kunstwerken kann nicht eindimensional gedacht werden. Der Betrachter im Raum mit all seinen Sinnen und Erfahrungen prägt die Wahrnehmung und fächert die mögliche Erfahrung in der zeitlichen und räumlichen Anschauung auf - und schließt den Fächer wieder zusammen. Bei Theurer wird gleichsam der optische Effekt der Fernräume, übersetzt ins Relief, in den Innenraum selbst hineingezogen. Die Rhythmisierung des Raumes durch Räume, Anräume, geht über in eine Durchspielung des Raumes zwischen Bühne und Schneckenhaus, zwischen Schutzraum und Ausgesetztsein.
Schon die Stelen im Raum oszillieren zwischen Leiblichkeit und Bild, scheinen ihre Volumina ins Imaginäre zu transponieren, sind nicht auf eine Sicht oder Deutung zu reduzieren. Es geht also in den Arbeiten weniger um einen feststellbaren Zustand als um Ambivalenz, die ja auch unser Leben prägt. Es geht um einen Vorgang, der die uneinholbare Prozessualität des Sehens, des Wahrnehmens einbegreift, der sich der Fixierung und Kontrolle entzieht. Die Erfahrung der zerbrechlichen Einrichtung der Welt, der Riss, ist Teil und Auslöser der Entwürfe, die je ein Feld von Möglichkeiten, von Fragen, von vorläufigen und doch präzisen Setzungen abstecken.
Auch Sam Grigorian jongliert souverän mit kunstgeschichtlicher Tradition, mit Medien und Kulturen, Geschichte und Schichtungen. Seine Collagen/Decollagen übertanzen Grenzen und Disziplinen. Zeichnung und Malerei, Farbe und Linie, Figur und Grund, Form und Spiel, Erkennen und Suchen verbinden sich in seinen unterschiedlichen Werkgruppen und in jedem Bild überkreuzen sich visuelle Energien und Impulse.
In der Wiederverwendung und Wiederaneignung von alten, bereits bezeichneten Papieren wird das Bildgefüge zum Palimpsest, in dem sich unterschiedliche Schichten, Nuancen, Spuren des Lebens überlagern. Jede Arbeit ist gleichsam ein Sehgitter, das den Einfall einer neuen, vielschichtigen Konfiguration herstellt und die Wahrnehmung in ein konstruktives Sehen zwischen Farbe und Struktur, Collage und Decollage, Fläche und Raum hineinzieht.
Und wie beim Relief klingen auch bei der Abstraktion ursprüngliche Möglichkeiten der bildnerischen Potentiale an. Schemata, das Ornament, die Musterung waren schon immer Facetten der Bildlichkeit, die dann im Vorstoß in die gegenstandslose Welt, in die integrale Abstraktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts Form und Inhalt neu reflektieren und auf kühne Weise zur Deckung bringen.
Im Prinzip der repetitiven Dichte, im Spiel der geometrischen Flächen, der Linien, der Farbe, ihrer Nachbarschaften und kristallinen Ordnungen wird das Bild bei Sam Grigorian gleichsam musikalisch, gewinnt Rhythmus und Takt, wird Neuschöpfung. Gerade in der Reduktion auf geometrisches Vokabular, auf konzeptuelle Recherche ergibt sich in der Anschauung immer wieder neu die komplexe, unauflösbare Erfahrung des Bildes, des Bildens zwischen Wiederholung und Differenz, Sukzession und Einmaligkeit.
Sam Grigorian erkundet zugleich die Farbe im Zusammenspiel und im räumlichen Sehen: Das Vorne oder Dahinter, die Überlagerung und die Abfolge stellen sich wechselweise in Frage - und gerade dadurch werden Objektivität und Gewissheiten fraglich in der und durch die Anschauung. Mit diesem Brüchigwerden der Selbstsicherheit und mit der Relativierung der Wahrnehmung setzt eine Befragung ein, die - weit über das Bild hinaus - herkömmliche Beurteilungskategorien torpediert.
Vielleicht ist alle Kunst ein Besuch von einem anderen Stern, so der Titel einer Werkgruppe Grigorians, die vielfarbige, kaleidoskopische Formen auf schwarzem Grunde schweben lässt. In solchen Kunstwerken erfahren wir zunächst Fremdheit, Befremden, eine Wahrnehmung von Alterität, und „die ‚Andersheit‘, so der Literaturwissenschaftler Georg Steiner, „die in uns eintritt, macht uns anders“. Das fluktuierende geometrische Spiel verknüpft den Betrachter mit einer Sphäre jenseits der Dinge, reale Gegenwart der Betrachtung und ein Anderswo verbinden sich, klar und geheimnisvoll zugleich.
Die Arbeiten hier in der Ausstellung zeigen Kunst als Gabe des Zusehengebens. Die Gabe der Kunst reicht weit über die Wiedergabe, die Abspiegelung der Welt hinaus. Was das Bild zeigt, ist ein Möglichkeitsfeld. Die Kunst öffnet einen Raum, der im Geschehen der Ent- und Verbergung ein anderes Verstehen erst ermöglicht. Diese Auffassung einer ursprünglichen Gabe in der Malerei impliziert bereits, dass das Kunstwerk keine bloße Wiederholung eines Außen ist. Das Außen und das Bild treten in ein komplexes Verhältnis. Die außerhalb des Bildes liegende Realität ist nicht der Maßstab des Bildes, ihr Anspruch reicht sozusagen nur lose in das Kunstwerk hinein. Das innerbildliche Geschehen aber wirkt als Sinnerschließung auf das Begreifen außerbildlicher Wirklichkeit ein. Das Verstehen außerbildlicher Wirklichkeit kann aus einem Übertreten von innerbildlicher Wirklichkeit in sein Außen schöpfen. In der bildlichen Darstellung ereignet sich etwas, das außerhalb des Kunstwerks unauffindbar, nicht wirklich gegeben ist. Was sich im Bild gibt und nur im Bild gegeben wird, wird dem Seienden als seine Wahrheit wiedergegeben. Kunstwerke sind ursprüngliche Wieder-Gabe, sie zeigen sich im Erblickt-Werden. Ihr Geschehen ist als Rahmen zu fassen, nur in ihren Erscheinungen ist sie greifbar.
Aus Nachbarschaften, Berührungen, Überschneidungen entsteht ein gestalteter Raum, in dem Sinn/Inhalt erst zum Vorschein kommt als ein stummes Gespräch der Formen und Farben untereinander, als ein Erinnerungsangebot zurück zu anderen Werken oder sogar voraus zu Bildern, die wir noch nicht haben. Das Kunstwerk spricht aus sich, spricht sich aus, und ist eine Einladung, einzutreten in einen Raumort und als Gast an dieser vielstimmigen Konversation teilzuhaben.
Dorothee Bauerle-Willert . 2016
Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Marion Eichmann, Karsten Kusch, Andreas Theurer“ im Gehag Forum der Deutsche Wohnen AG am 22.06.2016 (Auszug)
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich im Gehag Forum/Deutsche Wohnen - und wohnen ist ja ein komplexer Begriff. Mit Peter Sloterdijk erinnern gerade die Künstler als Tiefenbewohner der Welt an die Frage, wie das Welthaus überhaupt zu bewohnen sei. Es sind die ,Anderswohnenden' und ihr sein in der Welt bedeutet immer auch Mitarbeit an den mannigfachen Formen der Welt, am Fundus der Kultur. Kunstwerke erschließen den Raum, gestalten ihn zum Ort, konstituieren ihn in dem steten Wechselspiel von Ausräumen und Einräumen, von Zulassen und Einlassen - und gerade in der Plastik, der Skulptur ist das, „was zuerst und vor allem Einzelnen wahrgenommen wird, in gewisser Weise der Raum selbst." Aber Kunst ist auch Material, denkt das Material in Verbindung mit möglichen anderen Materialien und dem Raum selbst. Raum ist Ordnung, Kontext und Ortung. In einem zentrifugalen Impuls verbindet sich die Kunst heute mit ihrer Umgebung. Kunst ist Bewegung. Standbein / Spielbein, der Kontrapost und das Dazwischen. Die Kunst ist räumlich, auch wenn sie nicht greifbar ist, und sie lebt von dem Verhältnis, das wir als Betrachter zu knüpfen in der Lage sind. Ihr Feld ist offen und weit. Die Kunst koaliert mit der Gegenwart und der Gesellschaft. Sie ist reale Präsenz und provoziert immer wieder neu gegenwärtiges Wahrnehmen und Erfassen. Dies gilt auch und in besonderer Weise für die Skulpturen von Andreas Theurer, die hier in dem fließenden, klar akzentuiertem Raum in diesem Gebäude aus den 36er Jahren des letzten Jahrhunderts versammelt sind und jeweils ein besonderes Verhältnis zwischen Raum und Fläche, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Körper und Zeichen erspielen und setzen. Die neueren Arbeiten hier sind aus Wellpappe und präzise aus diesem eher nonchalanten Material heraus gedacht. Abstrakte, architektonische Formen, aus geometrischen Grundelementen, wie dem Würfel entwickelt setzen sie ein vielfaltiges Wahrnehmungsspiel in Gang, öffnen sich zum Raum, der nun kein jenseitiger mehr ist, gehen um mit dem zerbrechlichen Kontinuum, in dem wir leben, das unser Leben ist - und seiner Vielansichtigkeit. Die Körper und Formen irritieren, unterminieren Muster und Sehgewohnheit: Auf den ersten Blick erscheinen sie von anderer Materialität, als stabile Eisenskulpturen - ein Material-Mimikry, das in der Skulptur über Material denkt. In der malerischen Behandlung der Flächen, in den Lasuren und konsolidierenden Schichtungen öffnet sich die Struktur zu einem Dialog zwischen Dekonstruktion des Festgefugten und der Materialität, zwischen Licht und Schatten, zwischen Zeit und Ewigkeit. Ganz selbstverständlich sind es Denkfiguren der Öffnung auf eine andere Sicht der Welt, einer Welt die ja zunehmend ins Wanken gerät, flüchtig und flüssig geworden ist. Auch die fast archetypisch anmutenden Figuren, fragende Wächter, diskutieren basale skulpturale Fragen, und dies fast im Paradox: Gerade in der subversiven Flächigkeit, in und durch ihre Silhouette erreichen die Stelen eine räumliche Präsenz, eine ganz eigene Weise der Anwesenheit im Raum. Als ob sie ihren materialen Kern verlassen wollten, stehen diese Menschenzeichen, transzendieren und transponieren ihre Volumina ins Imaginäre. Damit ist auch ein grundlegender Konflikt des Skulpturalen angesprochen: Die Figuren changieren zwischen organischer Körperbildung und kubischer Abstraktion, zwischen Leiblichkeit und Bild, zwischen der graphischen Bezeichnung zum Körperbild, zwischen der kondensierten Kraft und der Intensität des Augenblicks, zwischen dem Traum der Malerei und der Wirklichkeit der Plastik, um eine Unterscheidung von Herder aufzunehmen. In den Skulpturen von Andreas Theurer und dem, was sich in ihrem Zwischenraum ereignet, geht es also weniger um den Zustand als um einen Prozess, der die uneinholbare Prozessualität des Sehens, des Wahrnehmens einbegreift, der sich der Fixierung und Kontrolle entzieht. Dabei ist der Raum Teil und Auslöser der Entwürfe, die die Welt nicht als unabhängiges Bild zeigen, sondern in ein Feld von Möglichkeiten verwandeln.
Birgit Möckel . 2015
Nicht von Pappe. - Zur Sprache des Materials in einer aktuellen Werkreihe von Andreas Theurer.
Ja, sie sind aus Pappe, diese neuen Skulpturen von Andreas Theurer. Konsequent aus diesem Material gedacht und entwickelt, zeigen sie die originäre Handschrift eines Bildhauers, der mit bewusst gewählter Stofflichkeit, Oberflächenreizen und Farbnuancen größtmögliche Wirkung der Formen im Raum erreicht und nicht zuletzt gerade durch das Material weitreichende inhaltliche Konnotationen weckt. Sie täuschen nicht, diese hochaufragenden geschlossenen Körperformen. Sie spielen vielmehr mit Licht und Schatten, mit der Illusion von Fläche und Raum und so dichten wie transparenten Strukturen. In der fragmentierten Außenhaut offenbart sich eine gleichsam archäologische Topographie oder Seelenlandschaft - als umfassende Projektionsfläche einer weithin sichtbaren und spürbaren brüchigen Realität.
Der Bildhauer Andreas Theurer weiß um die spezifische und durchaus auch kulturell geprägte (Aussage)kraft von Material, sei es Holz, Stein, Bronze oder – wie hier – schlichte Pappe, Sand und Farbe. Mit dem aufgrund seiner mehrschichtigen Struktur äußerst stabilen Werkstoff entwickelt er irritierende Körper und Räume, deren perspektivische Wechsel und Ansichten immer neu unsere eingefahrenen codierten Sehweisen ins Wanken bringen. Präzise aufgefächert, mit harten, teils holzschnittartigen Kanten und Konturen, öffnen und schließen sich diese komplex strukturierten, ganz in sich ruhenden Statuen und architektonischen Körper, um – peu à peu im Umschreiten - mit unerwarteten Perspektiven und neuen Deutungsmöglichkeiten zu überraschen. Passagen aus kontrastierenden malerischen, graphischen, hellen und dunklen Partien folgen einem eigenen Rhythmus und inneren Reiz, der zwischen den Gesetzmäßigkeiten von Material und Form und so assoziativen wie naturnahen Prozessen oszilliert. Im fließenden Miteinander der einzelnen Flächen entsteht die Lebendigkeit eines facettenreichen Materials, das jedes Teilstück eines umfassenden Ganzen spannungsreich einbindet, Hülle und Kern umfängt und aus der Nähe Ferne zu evozieren weiß – oder vice versa.
Was verbirgt sich hinter der Fassade dieser Archetypen, die sich mit einer dünn lasierten rostrauen Tarnung wappnen, die in der Nahsicht umso deutlicher die Verletzbarkeit der Außenhaut preisgibt. Ob Mimikry oder Camouflage – die Schutzmechanismen der Natur und des Menschen funktionieren bestens aus der Distanz, um im direkten Gegenüber eine bühnenhafte Illusion zu offenbaren, die eigenen Wirkmechanismen folgt. Ob aus der Evolution geboren oder zu militärischen Zwecken genutzt, jedwede variantenreiche Tarnung hilft zu überleben und täuscht den Feind oder den arglosen Betrachter, der sich den Figuren und Raumskulpturen des Bildhauers nähert. Wie Zeugen fremder Kulturen erzählt ihre (Zurück)-Haltung und reduzierte klare Form von einer fernen Zivilisation, während das Material in seiner Einfachheit und alltäglichen dinglichen Präsenz sie ganz in der Gegenwart verankert.
Der Dialog von sichtbarer Dekonstruktion der Oberfläche und warm schimmernden gleichsam festigenden Lasuren und dem damit verbundenen Licht- und Schattenspiel rückt die Idee eines Materials vor Augen, das auf Dauer angelegt ist. Doch was bedeutet jener Gedanke an Ewigkeit angesichts einer Welt mit immer neuen Krisenherden, zerstörerischen Kriegen, dem nicht endenden Verlust von Menschenleben und kulturellem Gedächtnis? Was zeigen menschenleere Architekturfragmente, die Andreas Theurer möglichst flach an die Wand schmiegen lässt, um von dort eine größtmögliche illusionäre Raumwirkung und Sogkraft zu entfalten – insbesondere im Dialog mit seinen gleichsam aus der Zeit heraus gelösten und doch auf das engste mit der Gegenwart verbundenen Figuren?
Mit leichter Hand haben sich diese Protagonisten aus dem Schatten ihrer massiven Pendants gelöst und ihren Platz im Oeuvre erobert. Gleichsam herausgeschält aus dem innersten Kern einer zutiefst humanistisch geprägten künstlerischen Idee bilden sie jetzt eine neue Werkgruppe, die eigene Schatten wirft: zuweilen ganz real aus schwarzem Sand. Was ist Wirklichkeit? Was ist Vorstellungskraft? Neben dem Material Stein und dem hell und dunkel gefassten Holz seines bisherigen Oeuvres, ist es vielleicht gerade die Synthese aus Anpassungsfähigkeit und mit leichter Hand zu transformierenden Werkstoffes Pappe, die sich Andreas Theurer zu eigen macht, um über die tradierte geometrische Perspektive und Modellhaftigkeit hinaus weitere authentische Wahrnehmungsräume zu schaffen, die vom Innersten des Menschen und einer umfassenden Seelenlandschaft erzählen – als zeitliche Spur und brüchige Realität.
Fritz Jacobi . 2012 - Körper zwischen Statuarik und Anschauung
Zum Schaffen von Andreas Theurer seit Anfang der 1990er Jahre
Im Jahre 2001 begann Andreas Theurer mit der Gestaltung einer Werkreihe von überlebensgroßen Holzfigurationen, die zu den Hauptwerken seines Schaffens in der jüngeren Vergangenheit gehören. Stelenartig aufragende menschliche Körper vermitteln in Arbeiten wie „Cassandra“, 2001/2003, „Geflecht“, 2001/2003, „Verflochten“, 2001/2004, „Requiem“, 2001/2004, „Thanatos“, 2003/2004, oder der Bündelung mehrerer Gestalten in „Entwurzelt“, 2004, eine starke, blockartig verdichtete skulpturale Kraft. Obwohl sie von einer beinahe expressiven Formensprache geprägt erscheinen, erinnern sie doch eher an elementare Gefäßformationen, die – sorgsam ineinander gefugt – die Wirkung tektonisierter Körpergebilde annehmen. In diesen aus Kiefernholz gearbeiteten Figurationen, die zusätzlich noch mit meist dunkler Beize und Farbe behandelt wurden, dominiert ein straff verspanntes Rhythmusprinzip. Nicht nur die zur Eigenständigkeit neigenden kubischen Teilpartien, sondern auch das Konturen betonende Netzwerk geometrisierender Lineamente gliedern die Skulpturen in flächige Segmente, lassen zugleich aber den Eindruck entstehen, als ob hier gratige Felsmassive aus dem Boden erwachsen.
Diese Menschenzeichen muten an wie verschattete Wesen, deren lebendiger Entfaltungsdrang in einer gleichsam erstarrten Ummantelung fest eingebunden wird. Die Gestaltgefüge von Andreas Theurer stehen in dem grundlegenden Konflikt zwischen organischer Körperbildung und abstrahierter Formenwelt. Das erkennbar Leibhafte erfährt durch die freien Strukturen wie schräge Linienverläufe, verkantete Vorsprünge oder scharfe Durchbrüche eine spürbare Verfremdung, die deutlich auf eine ganz bestimmte gestalterische Intention verweist: die Synthese von plastischen und bildnerischen Wirkungsformen.
„Ich kann das Außen wie das Innere zeichnen!“, bekannte Andreas Theurer jüngst bei einem Atelierbesuch und formulierte damit etwas zugespitzt ein Credo, das ihn nunmehr seit über zwei Jahrzehnten mehr und mehr beschäftigt hat. Schon um 1991/1992 tendierten seine Skulpturen zu einer zunehmend flächenhaften Außenwandung in streng gefassten Kuben oder sie verwandelten sich mitunter sogar in breit gezogene Körper-Bilder, die mit einer deutlichen Schmälerung des realen Volumens einhergingen und stattdessen den optischen Eindruck von räumlicher Tiefe suggerierten. Schon damals zeichnete sich eine Entwicklung ab, welche in der Folgezeit eine immer stärkere Bedeutung erlangen sollte: Im Verhältnis von Körper und Raum suchte Theurer eine Gestaltungsform, in der das Plastische einerseits als reale Gegebenheit mit all ihren körperlich-haptischen Eigenschaften zum Tragen kommt, andererseits aber auch als visuelle Erscheinungsform des Dreidimensionalen wahrgenommen wird. Die nach außen drängende Kraft des Skulpturalen sollte sich mit der Intensität des Augen-Blickes verbinden – sehr entfernt mit der Reliefgestaltung verwandt, doch letztlich auf eine ganz eigene Ausprägung plastischer Auffassung gerichtet.
Es geht dem Bildhauer und Objektkünstler Andreas Theurer im übertragenen Sinne um eine „Entschwerung“ der Skulptur und gleichzeitig um den Hinzugewinn einer offeneren Betrachtungsart, gleichsam um eine neue Mehrschichtigkeit plastischen Begreifens. Es ist ihm in vielen seiner Werke gelungen, diese Ambivalenz des Realen in künstlerischer Form aufzubereiten, indem seine Skulpturen gewissermaßen aus ihrer Verankerung gelöst und in übergreifende Zusammenhänge gestellt werden. Die Gewichtigkeit des Körperlichen und die Lesbarkeit der Fläche, reale Raumverdrängung und illusionistisches Bild sowie figurale Anmutung und zeichenhafte Verknappung verschwistern sich in seinen Arbeiten zu einer Anschauungsform, welche das plastische Gegenüber anders reflektieren lässt.
Aus der Vielzahl seiner oft auch experimentell angelegten Arbeiten seien hier nur drei Werkgruppen, die über Jahre hinweg zu immer wieder modifizierten Fassungen einer Grundidee geführt haben, herausgegriffen und etwas näher behandelt. Schon seit 1991 begann für Andreas Theurer die schräge Form in verkanteten Würfelformationen eine wirklich prägende Rolle zu spielen. Am Anfang entstand die „Kleine Illusion“, 1991, der die „Große Illusion“, 1992, „Zeit-Raum II“, 1993/2000, „Platons Würfel“, 1995, die Reihe kleiner Torgebilde wie „Potemkinsches Haus“, „Für Paul Virilio“ oder „Fremder Horizont“ und „Labyrinth“, 2000, folgten. Auch die Reihen der „Ruine“-Tafeln, 2002/2004, und der „Zeit-Faltungen“, 2009/2011, gehören in diesen Werkverbund, denn in all diesen über die Fläche ausgebreiteten Körperzeichen stoßen richtige perspektivische Ansichten mit einer fehlenden plastischen Entsprechung oder einem unvermittelten horizontalen Beschnitt direkt aufeinander. Irritiert versucht der Betrachter, der von der spannungsvollen Klarheit der Formbildung angezogen wird, die jeweilige Anschauung zu vollenden, muss sich letztlich aber darauf einstellen, den beiden Wahrnehmungsformen ihre Geltung zu belassen. Man denkt unwillkürlich an optische Täuschungen und wird sich der Relativität des Sehens bewusst.
Einen anderen Weg der Überschneidung unterschiedlicher Wahrnehmungen wählt Theurer, wenn er die Möglichkeiten flacher Metallplatten im Hinblick auf ihre räumlichen Entfaltungen auslotet. 2007 ergab sich für ihn im Rahmen eines Auftrages für den öffentlichen Raum die Gelegenheit, mit großen Stahlblechen zu arbeiten. Das „Offene Haus“, das in der Nähe des Berliner Nollendorfplatzes Aufstellung fand, vereint die Darstellung einer Figur, die zur Hälfte als positive Umrissfläche, zur anderen Hälfte als ausgeschnittene Negativfläche gestaltet wurde, mit der dachartig abgeschlossenen Form eines Gehäuses, das ebenfalls mit einem Tür ähnlichen Ausschnitt versehen ist. In weiteren verwandten Arbeiten wie „Grenzland“, „Annexion“, beide 2008, und „Chronos“, 2010, variiert Theurer diese ineinandergreifende Dualität von Figur- und Wandfläche, während er in „Schwerelos“ und „Freiraum“, beide 2008, den Ausklappungsmöglichkeiten der reinen Geometrie des Quadrats in die räumliche Gestalt hinein nachspürt. Die wechselseitige Beziehung von fester und offenen Form beschäftigt hier das betrachtende Auge, animiert zum gleichzeitigen Sich-Gegenüberstellen und lässt diesen permanenten Schwebezustand zwischen dem Durchgängigen und dem Unzugänglichen fühlbar werden, der uns eigentlich täglich in mannigfaltiger Art und Weise begegnet.
Wie eine Vorbereitung auf diese Werkgruppe kann das 2003 in Holz gearbeitete, lebensgroße „Himmelstor“ gelten, das innerhalb einer vertikal errichteten Wand den Ausschnitt einer menschlichen Figur – zum Körperzeichen verknappt – vergegenwärtigt und einer plastisch ausgeformten liegenden Figur gegenüberstellt. Dieser Bezug von aktivem Erscheinungsbild und passivem Realkörper lässt eine sehr intensive Metaphorik von Sein und Nicht-Sein entstehen, ohne wirklich nach der einen oder anderen Seite hin aufgelöst werden zu können.
Die Durchdringung von Figur und Gegenstand spielt im Schaffen von Andreas Theurer immer wieder eine wesentliche Rolle, aber auch die pure Objektgestaltung pendelt sich häufig auf die Existenzproblematik des organischen Körpers ein. Arbeiten wie „Thron“, 2000/2004, „Labil“, 2005, „Schritt für Schritt“, 2007, oder die unregelmäßig geformten Wandelemente „Raum beflügelt“, „Raumparadox“, beide 2009, und „Arche“, 2009/2011, veranschaulichen eine merkwürdige Instabilität, die sich als unwägbare, doch gleichermaßen rustikale Spurenzeichen zwischen Werden und Vergehen erweist und damit impulsartig die wechselnden Positionen eines bewegten Seins symbolisiert.
Selbst sein großes, Wellen artig ausgespanntes „Denkmal für Johann Georg August Wirth“ in Hof, 1998 in einer ersten und 2012 in einer leicht veränderten Fassung eingeweiht, trägt Züge einer solch immerwährenden Veränderung, welche uns in der Natur, in der Gesellschaft oder auch im eigenen Sein stets begleitet. Diese begehbare Bodenskulptur sucht die Erdnähe und wölbt sich doch in den Raum hinein, avanciert zum Objekt der Anschauung und lässt sich zugleich in einen Ort von Handlung verwandeln – ein Spannungsverhältnis mithin, das den Werken von Andreas Theurer zumeist in äußerst anregender Form innewohnt. Cetin Güzelhan hat diese Intentionen des Künstlers einmal in sehr treffenden Worten so zusammengefasst: „Die Dialektik in Theurers Arbeit ist offensichtlich. Bei aller formalen Strenge, Festigkeit und Statuarik führen uns seine Skulpturen die Schieflage der Welt vor Augen. Denn wenn die Sicht der Dinge den eigenen Horizont überwindet und verschiedene Perspektiven gleichzeitig gelten, dann schwankt die Welt, dann stürzen die Linien, dann spüren wir die Labilität unseres Daseins – und sehen die Welt mit Theurers Augen.“
Katalog „Fremder Horizont - Andreas Theurer“, Damm und Lindlar-Verlag, Berlin 2012
Hans-Dieter Erbsmehl
Bei seinen “inneren” Themen sind die Begriffe “abstrakt” und “gegenständlich” keine Gegensätze mehr. Die bildnerischen Ausdrucksmittel durchdringen, verzweigen und verweben sich. Sie werden zu Metaphern für Wachsen und Sein, für die Gefährdungen des Menschen - aber auch für die widersprüchliche Interpretation der Wirklichkeit und den Geist der Verantwortung füreinander. Als Bildzeichen im Raum wollen sie die Zerstörung und Sinnlosigkeit aufhalten, wollen sich einmischen und zur Veränderung beitragen.
in: Katalog Perspektives
Herbert Schirmer . 2010
über Andreas Theurer, Katalog „Ateliers & Werkstätten“, Lübben 2010
Andreas Theurer hält die Verbindung zwischen Tradition und Moderne und baut damit zugleich eine Rezeptionsbrücke, die zwischen den figürlichen Skulpturen aus Stein und den abstrakten Gestaltungsformen aus Wellpappe vermittelt. Einerseits setzte er sich engagiert mit dem menschlichen Körper auseinander, den er in seiner realistischen Ausprägung wie ein Artefakt einer bedrohten, untergehenden Zivilisation behandelt, andererseits weist die Monumentalplastik “Himmelstor” deutliche Bezüge zur Minimal Art auf.
Sie erinnert in ihren kompakten Volumen und der geometrischen Sprache an industrielle Formen. Massiv geschlossene neben durchlässigen Einzelformen suggerieren ein Tor, das Durchlässigkeit gegenüber dem Umraum markiert und dessen zeichenhafte Signifikanz für eine Spiritualisierung der Skulptur steht. Ein künstlerisches Konstrukt, in das Eindeutigkeit, Rätsel und ironische Brechung zu gleichen Teilen eingehen. Das trifft auch auf die bestechend klare Sachlichkeit und die konstruktivistischen Elemente in den aus Wellpappe geformten Objekten zu.
Deren Intensität wird durch die zeitgenössische Obsession für das Thema Informationsgesellschaft gesteigert. Wortspiele und Textfetzen, die als fragmentarisch lesbare Typografie der konstruktiven Erscheinung des Objektes angepasst sind, transferieren die allgegenwärtigen Informationsmedien auf die Ebene sozialer Kommunikationsklischees.
Michael Pohly and John Robert Kelly, 2003
Perspektiven – ein Workshop und zwei Ausstellungen an der Faculty of Fine Arts der Kabul University
Die Ausstellung von Andreas Theurer (Auszug)
„Hat dieses vom Krieg verwüstete Land nicht andere Dinge viel nötiger als Kunst?”, fragte der deutsche Bildhauer Andreas Theurer, als ich ihm vorschlug, eine Ausstellung seiner Werke und einen Workshop an der Fakultät der Schönen Künste in Kabul durchzuführen. “Nein”, erwiderte ich und schilderte die Begeisterung und das Leuchten in den Augen der Angehörigen der Fakultät der Schönen Künste, als ich ihnen mein Projekt vorgestellt hatte. Ein Dialog sollte begonnen werden, wie er in diesem vergessenen Teil der Welt über Jahre nicht hatte stattfinden können: in einem Land, in dem seit Jahrzehnten Gesetz und Ordnung außer Kraft gesetzt sind, in dem gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit der Waffe in der Hand ausgetragen werden - in einem Land in dem es keinen Platz gibt für zivile oder kulturelle Interessen und das durch eine alles bestimmende "Islamisierung” dominiert wird.
Diese gewaltsame Veruntreuung einer ehemals stolzen, toleranten Religion – auch eines stolzen Landes – ist das traurige und beängstigende Erbe von jahrzehntelanger, mörderischer Herrschaft der Mudjahidin, verkündet durch den Djihad, wodurch diese ihre Anhänger vereinigten und zu einem feurigen Höhepunkt anfachten um sich dem Einmarsch durch „gottlose“ Sowjets, wie sie von den afghanischen religiösen Fanatikern bezeichnet wurden, entgegenzustellen.
Um dem Petersberger Abkommen vom Dezember 2001 eine Chance zu geben, ist es notwendig, den zivilen Sektor in demselben Maß wie die humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau zu stärken. Die Ausstellung eines Künstlers aus einem fernen Land wie Deutschland könnte die Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft unterstützen. Der Wiederaufbau der Infrastruktur Afghanistans muss sich mit mehr als nur der Renovierung der äußeren Hülle ihrer zerstörten Gebäude befassen, er muss auch die Institutionen selbst inhaltlich erneuern. Ziegel und Mörtel beschreiben nur das Umfeld – das Leben innerhalb dieser Wände definiert das Potential einer zivilen Gesellschaft. Im Inneren der wiedereröffneten Räume der Kunstfakultät schlummert die pulsierende Kraft eines lebendigen, dynamischen Austausches von Ideen und Bildern: dies ist das Ziel der Kunst.
Die Absicht der Werkschau und des Workshop mit dem Titel “Perspektiven” sollte der Beginn eines Dialogs mit afghanischen Künstlern und der Bevölkerung sein. Fremdartige Skulpturen und Bilder sollten zur Diskussion über künstlerische Positionen veranlassen und die Auseinandersetzung mit kulturellen und individuellen Hintergründen und zukünftigen Möglichkeiten vorantreiben. Bewusst wurde ein Künstler – Andreas Theurer - gewählt, dessen Werke weder plakativ noch figürlich sind, der aber erfahren ist im Umgang mit der Aufarbeitung historischer Momente. Sein Denkmal zu Ehren des Advokaten Wirth, der mit anderen 1832 eine Versammlung an der Burgruine Hambach einberief, zu der über 30000 Menschen zusammenkamen und dort kräftig gegen die „Fürstenknechtschaft und Reaktion“ gewettert hatten und in Vivats auf die „vereinigten Freistaaten Deutschlands“ und das „konföderierte republikanische Europa“ ausbrachen, steht exemplarisch dafür. Nicht nur die Art und Weise der Umsetzung, nein auch die Parallelen zu Afghanistan mit seinen "Warlords“, mangelnder Einheit und kaum vorhandenen Bürgerrechten, geben Raum für Assoziationen, die das "Hambacher Fest“ mit dem Petersberger Abkommen als ein Fanal für eine gerechtere Zukunft in eine Linie stellen.
Bereits am Tage der Vernissage sahen über 500 Besucher die Ausstellung. Staunend und manchmal ehrfürchtig, begegneten sie den mitgebrachten Exponaten, die auf den frisch geweißten Gängen des Fakultätsgebäudes präsentierte wurden: etwa dreißig, teils monumentale Skulpturen aus Stein, Bronze und Holz, Kuben und geometrische Formen in verzerrter Perspektive, Figurationen, die vielleicht noch entfernt an die menschliche Gestalt erinnern. Ungläubig von dem Dargebotenen bestürmten vor allem die jungen Studenten den deutschen Bildhauer und seinen Assistenten und suchten das Gespräch mit ihnen. Oder war es Ratlosigkeit, weil nach dem langen Bilderverbot vielleicht doch eher eine Sehnsucht nach figürlicher Kunst vorherrschte? Die Herausforderung war enorm und erforderte viel Kraft und gegenseitige Toleranz.
Ohne Zweifel, Andreas Theurers formale Komplexität und seine rigorose Dekonstruktion von Form im eigentlichen Sinne stellte eine radikale Abkehr von jenen Erfahrungen einer eher narrativen Figürlichkeit seiner Hörerschaft dar. Seine Leichtigkeit und Vertrautheit im Umgang mit dem Material ist bei den kleineren Arbeiten differenziert, komprimiert und destilliert zur Essenz einer Idee, während seine Hand bei anderen Skulpturen episch abstrakt und doch metaphorisch ist, grob aus dem Leben selbst gerissen, aber provokativ konkret. Sein Werk schien die jungen Betrachter gleichermaßen zu verwirren und zu hypnotisieren. Dies war ihr erster flüchtiger Blick auf etwas, das wohl als „dekadente“ westliche Kunst bezeichnet wurde, insbesondere im Vergleich zur Ausdrucksweise des „sozialistischen Realismus“ und einige schienen völlig ihre Fassung verloren zu haben, indem sie nach einem neuen ästhetischen Vokabular zur Beschreibung dieser oft fremdartigen Erfahrungen suchten. Andreas Theurers Abkehr von Normen der konventionellen abstrakten Kunst wurde in seinen kleinformatigen Bronzeplastiken deutlich, die vertraute Ansichten antiker Tempel und Kultstätten wachriefen, passend zu den Vorstellungen der afghanischen Kunststudenten von Moscheen mit Pilastern oder Bildern aus Kunstlehrbüchern der griechischen und römischen Architektur. Die Bewegung der kräftigen, afghanischen Sonne erfüllte die Galerie indem sie die Lichtbündel akzentuierte, die jene kleinen Metallgebilde durchströmten, welche auf groben, weißen Ziegelsäulen hoch aufgestellt waren um die Strahlen einzufangen und in sonderbaren Winkeln durch den Korridor zu streuen. Zweifellos müssen jegliche Bedenken, die Andreas Theurer über die Wirksamkeit oder einfach über die schiere Unwahrscheinlichkeit einer Ausstellung seiner Arbeiten in dem entlegenen Kabul empfunden haben muss, in dem Moment zu einer Offenbarung dahingeschmolzen sein, als sich Kinder wie Erwachsene begierig und freudig seiner neuen Vision völlig hingaben. Die Menge bewegte sich ungeduldig von einer Arbeit zur anderen in der Hoffnung, die sich wandelnden Lichtwellen aufzufangen, während sich ihre Augen auf seine winzigen, schwebenden Tempel konzentrierten, die in der Hitze der Fenster glühten.
Die größeren Werke, monumental in Format und Form, waren an den Kreuzungen der Korridore aufgestellt und erschienen manchmal als stumme Wächter, die den Verkehr durch die Galerie lenkten. Man spürte ganz offensichtlich das reliquienhafte an diesen Gargantuas, so als ob die Gestalten grob geschnitzt und vom Künstler rau belassen worden sind, um den Verschleiß durch die Zeit oder das Altern durch zahllose Generationen von Händen, die ein überliefertes oder öffentliches Totem berühren, zu simulieren. Formlos kopflos, handlos, ausdruckslos - oder nur mit geringen Andeutungen davon – konnte man nicht umhin, sie im Kontext dieser Zeiten in Afghanistan, als Vorwurf und als Aide-memoire für die gefallenen Buddhastatuen zu sehen, an die Theurers Skulpturen erinnern könnten. Es waren diese geisterhaft verhüllten, uns verfolgenden Figuren die, besonders wenn sie in abgeschiedenen Fluren einzeln aufgestellt waren, die beeindruckendste Wirkung erzielten.
Diese Hüter, oft in fensterlose Gänge gestellt, einige spärlich beleuchtet durch grünliches Licht alter Leuchtstofflampen, schienen urzeitliche Patrouillen der Unterwelt zu sein, Entkommene aus einem expressionistischen UFA-Stummfilm von F.W. Murnau oder Fritz Lang. Die Wahrnehmung dieser Figuren balanciert zwischen Figürlichem und Abstraktem und gestattet dem Betrachter, die semantische Komplexität der Skulpturen zu vervollständigen. Bei allem Eklektizismus von Ausstellungsstücken, wie den zerklüfteten, differenzierten Statuetten auf Sockeln in den hellen, engen Hallen und den eher traditionell gerahmten Drucken, geht der stärkste Eindruck von diesen riesigen, bedrohlichen und doch einladenden Skulpturen in jenen langen Korridoren aus. Sie waren das sine qua non der ausgestellten Werke. Fest steht, diese selbstsichere Mannigfaltigkeit von Größe, Form, Gegenstand, Maßstab und Material zeigt die Tiefe von Andreas Theurers Talent und weist darauf hin, dass er sein Publikum herausfordern wollte. Dies war in jeder Hinsicht eine Schau von bemerkenswerter Gewichtigkeit und Autorität – und Passion.
Auszug aus: Katalog „Perspectives“
Idee und Konzept: Michael Pohly
Herausgeber: Friedrich-Ebert-Stiftung
Verfasser: John Robert Kelly, Michael Pohly
Übersetzung: John Robert Kelly, Jacob Jan Scholtz
Werner Stötzer . 1993
Die Kenntniss über die Arbeit des Andreas Theurer führte zu dem Wunsch einer persönlichen Begegnung mit ihm. Für mich, den Älteren, war das ein Gewinn. Der Begegnung folgte durch Neugierde ein Kennenlernen von Theurers Werk.
Auffallend war für mich, das sein Formbilden aus einer geistig-sinnlichen Betrachtung der Natur und durch Erfahrung bei der Arbeit erworben wurde. Seine Entwicklung basiert auf einem handwerklichen Können, ich kann das beurteilen, er ist nicht stolz darauf, aber er hat seine Bildhauerei darauf gegründet. Er fand dabei Maßstäbe, die das Gewicht zweier Jahrtausende für sich haben.
Es gibt bei ihm keine erdachten Theorien, es ist vielmehr die unumgängliche Suche nach dem uralten Zusammenhang zwischen Stoff und Form. In einer Zeit, da alles und auch nichts zur Kunst erklärt werden kann, schlägt er seine Skulpturen aus dem Stein, wissend um die Dauer der Arbeit. Will sagen, nicht für einen Apell, nicht für den Tag und schon gar nicht für eine Mode.
Es entsteht ein Arbeitsbild, kein Seinsbild. In diesem Arbeitsbild erscheinen nun seine Skulpturen - sie weisen sich aus durch ein Zusammengehen von bruchstückartiger Vereinzelung und schöner Ausformung der Bruchstücke zur Harmonie eines Ganzen. Bei den besten Stücken gebiert der Arbeitsprozess am Ende die Frische des Anfangs.